Brake/Ovelgönne - Es geht um Zuständigkeiten und Zuverlässigkeit, um Behörden und Willkür, um Geld und Paragrafen. Unterm Strich geht es für Kerstin Held aber eigentlich nur um eins: das Recht auf Rechte.

Die 41-Jährige hat das Kämpfen gelernt. Seit dem Jahr 2000 ist sie Pflegemutter von Kindern mit Behinderung, seit einiger Zeit alleinerziehend. Sechs Pflegekinder hat die gelernte Ergotherapeutin und Eventmanagerin in dieser Zeit „ins Leben entlassen“ oder sie sind gestorben. Als sie 16 war, hat sie ein freiwilliges Jahr in einer Pflegeeinrichtung gearbeitet. Dort hat sie ihr erstes Pflegekind kennengelernt, ein Junge im Alter von fünf Jahren. „Als er 14 war, habe ich ihn nach Hause geholt.“ Sie habe einfach den Wunsch gehabt, dem Kind ein Zuhause zu geben. Die Entscheidung sei mit den leiblichen Eltern zusammen gefallen, die sich selber nicht um das Kind kümmern konnten.

Drei Pflegekinder leben heute bei Kerstin Held in Ovelgönne, alle alkohol- und drogengeschädigt. Und von ihnen gibt es viele: „Allein in der Wesermarsch leben weit über 20 Pflegekinder mit Behinderung, für die es keine gesetzliche Grundlage gibt“, sagt die 41-Jährige.

Für eine solche kämpft Kerstin Held – als Pflegemutter und als Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder. Um der Öffentlichkeit und der Politik das Problem vor Augen zu führen, ist diesen Dienstag eine Kundgebung in Berlin geplant. Worum es dem Bundesverband dabei genau geht? „In aktuellen Gesetzesentwürfen werden Pflegekinder mit Behinderung erneut außer Acht gelassen, obwohl bereits seit Jahren dringender Handlungsbedarf besteht.“ Es gebe derzeit keine Rahmenbedingungen und Gesetze, die verbindlich die Rechte von Kindern mit Behinderungen in Pflegefamilien regeln. „Unsere Kinder gibt es nicht im Gesetz!“

Das Problem: Die Zuständigkeit liege bei unterschiedlichen Ämtern, Bewilligungen hingen oft vom Sachbearbeiter ab, schildert Kerstin Held die Praxis. „Nichts ist gesetzlich geregelt.“ Jede Kommune versuche das für sich. „Und die einfachste Regelung ist ein Heimplatz.“ Dabei fordere das Gesetz genau das Gegenteil: Bei jedem Kind müsse überprüft werden, ob ein Heimplatz vermieden werden könne. Für Kerstin Held ist dieses Recht der Kinder auf eine Familie und deren Recht auf Sicherheit und Kontinuität Motivation für den Einsatz im Bundesverband.

Nur: „Die Behörden sind damit überfordert“, glaubt Kerstin Held und macht das gerne an einem einfachen Beispiel deutlich: „Die Jugendhilfe spricht Holländisch, die Sozialhilfe Italienisch. Solange kein Dolmetscher da ist, läuft nichts.“ Dabei sei eine Lösung machbar: „Man muss sich nur aufeinander zu bewegen – und mal ein Wörterbuch in die Hand nehmen.“ Und: „Die Gesamtzuständigkeit gehört in den Bereich der Jugendhilfe.“

Gar gegen Kinderrechts- und Behindertenrechtskonvention gleichermaßen verstößt für Kerstin Held die Einteilung der Kinder: Bei einem Intelligenzquotienten unter 70 landeten diese in der Sozialhilfe, darüber in der Jugendhilfe. „Das ist höchst diskriminierend.“

Und die Pflegefamilien? Die schicke die Politik sehenden Auges in die Pflegefamilienarmut. „Wenn eine Pflegemutter ihren Job aufgibt und das Kind ein paar Jahre später stirbt, hat sie nicht nur Schwierigkeiten, zurück in den Job zu kommen. Sie hat nicht einmal Anrecht auf Bestattungshilfe.“

Mehr als 450 Pflegefamilien sind Mitglied im Bundesverband. Sie betreuen mehr als 1000 Kinder mit Behinderungen – und sparen laut Kerstin Held dabei auch jede Menge Steuergelder: „Zehn Kinder, die 15 Jahre in Pflegefamilien leben, kosten den Staat 3,6 Millionen Euro weniger als wenn sie im Heim leben.“

Markus Minten
Markus Minten Redaktion Oldenburg (Leitung)