Muhle: Ganz genaue Zahlen gibt es nicht, meine Schätzung beläuft sich auf etwa 400 Fälle.
Muhle: So wurden die Entführungsaktionen der Stasi in den 50er Jahren in West-Berlin und der Bundesrepublik wahrgenommen. Dieser Begriff gibt einen Eindruck von der damaligen Empörung im Westen.
Muhle: Bei vielen Entführungen wandte die Stasi Täuschungsmanöver an. Mit Hilfe von Telegrammen, Anrufen oder Besuchern wurden die Opfer unter Vorwänden auf DDR-Gebiet gelockt, wo man sie dann festnahm und festhielt.
Muhle: In etwa 100 Fällen kam es zu gewaltsamen Entführungen. Dabei ging man äußerst brutal vor. Zu den bekanntesten Entführungsfällen durch die Stasi gehört der Rechtsanwalt Walter Linse, ein Mitarbeiter einer antikommunistischen Organisation in West-Berlin. Er wurde im Sommer 1952 auf dem Weg zur Arbeit auf offener Straße brutal niedergeschlagen und entführt. Die Stasi übergab ihn an den sowjetischen Geheimdienst, wo er von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und im Dezember 1953 in Moskau erschossen wurde.
Muhle: Nein, das nicht. Aber hier waren Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi unterwegs. Einer von ihnen war der IM „Donner“, der an mehreren Entführungsaktionen beteiligt war. In den Jahren 1963/64 beauftragte die Stasi ihn mit der Ermordung von zwei geflohenen Stasi-Mitarbeitern, von denen einer in Bremen lebte. „Donner“ sammelte also in Bremen die nötigen Informationen und bereitete den Mordanschlag vor. Das Opfer sollte auf ein Brachgelände gezerrt und getötet werden. Die Leiche wollte man in einem Teich verschwinden lassen.
Muhle: Der Mordplan kam nicht zur Durchführung. Die Stasi befürchtete, die bundesdeutsche Polizei hätte etwas von dem Vorhaben erfahren. Der betroffene Bremer hat erst in den 90er Jahren aus den Stasi-Unterlagen mitbekommen, wie dicht die Stasi ihm auf den Fersen war – und ist mächtig erschrocken.
Muhle: Man bemühte sich schon um Schutz für die Bevölkerung. Es gab Warnhinweise, und es wurden zum Beispiel Grenzübergänge vom Westen aus zeitweise abgeriegelt. Das ist vielen gar nicht bekannt; da wurden bewegliche Sperren aufgebaut, um Durchfahrten zu verhindern. Und der Westberliner Senat bemühte sich um eine bessere Bewaffnung der Polizei, was stets mit den Alliierten abgeklärt werden musste. Die Alliierten haben das jedoch zumeist nicht genehmigt.
Muhle: Die Entführungen dienten der Gewinnung von Informationen und der Bestrafung, waren vor allem aber eine Machtdemonstration der DDR. Die Stasi wollte den Eindruck erwecken, allgegenwärtig zu sein. So wurde auch im Westen Verunsicherung gestiftet. Nach der Devise: Wir sind auch jenseits der Grenze aktiv, der Westen ist schutzlos. Nach innen war das ein Signal gegen mögliche Abtrünnige, gegen eventuelle Fahnenflüchtige: Ihr könnt nicht entkommen!
Muhle: Ein Großteil der Entführten wurde inhaftiert, ungefähr 200 Personen waren zwischen einem und zehn Jahren in DDR-Haft. 24 Entführte wurden zum Tode verurteilt, meistens durch sowjetische Militärtribunale, und hingerichtet.
Muhle: Ja, das stimmt. Die Stasi nahm Ende der 50er Jahre weitgehend Abstand von der Entführungspraxis. Die DDR wollte international anerkannt werden, da passte Menschenraub nicht ins Erscheinungsbild. In Einzelfällen erwägte die Stasi daher die gezielte Tötung politischer Gegner und Abtrünniger, da sich diese besser als eine Entführung verschleiern ließ. So gab es etwa den Versuch, den Fluchthelfer Wolfgang Welsch Anfang der 70er Jahre mit vergifteten Frikadellen umzubringen. Aber er überlebte. Oft wird auch der Fall des 1983 verunglückten Fußballers Lutz Eigendorf angesprochen; der Fall ist noch nicht ganz geklärt – was auch daran liegt, dass die Stasi bei Morden oft mündliche Absprachen traf.
Muhle: Die Bilanz ist mager: In 500 Fällen wurde ermittelt, es mündete dann in 20 Anklagen gegen 29 Personen. 16 sind verurteilt worden – zu Bewährungsstrafen zwischen drei und zehn Monaten. Viele Verfahren wurden wegen vorgerückten Alters oder Krankheit eingestellt. Nicht selten waren die Taten verjährt.
Muhle: Das wäre blauäugig. Entführungen waren und sind eine geheimdienstliche Praxis.