Bremen Das Gefühl, etwas Besonderem beizuwohnen, kommt in der Regel verspätet. Im Moment, da das Außergewöhnliche stattfindet, weiß man nur selten um seine Bedeutung. Die wird erst später, in der bewertenden Nachbetrachtung klar. Manchmal dauert die Zeitspanne von Ereignis bis Erkenntnis Minuten, manchmal knapp 21 Jahre.
Konnte ich denn wissen, damals am 2. September 1998, dass ich im Sonderbus zu einem einmaligen Ereignis unterwegs war? Natürlich nicht, schließlich war es das zehnte Mal, dass ich die Rolling Stones auf der Bühne erleben sollte, diesmal sogar im ehrwürdigen Weserstadion. In Bremen hatte ich die agilen Rocker auch zum ersten Mal gesehen, 1967 als Jugendlicher in der Nachmittagsvorstellung. Abends durfte ich noch nicht in die Stadthalle.
Die Show der Stones bei ihrem Bremen-Debüt dauerte ganze 25 Minuten (plus sechs Vorgruppen), kostete 7,50 D-Mark und machte einen Heidenspaß, weil alle in der Halle permanent schrien, ohne zu wissen, warum. Egal, wir fühlten uns in dieser knappen halben Stunde als Teil von etwas ganz Besonderem, nie Wiederholbarem.
Im Frühherbst 1998 schien alles anders zu sein. Ich hatte die Rolling Stones seit meiner Premiere weitere achtmal gesehen, schlimme Konzerte mit verstimmten Gitarren und zweistündiger Verspätung, aber auch Shows von erhabener Größe und Güte. Was sollte also schon Außergewöhnliches geschehen, abgesehen davon, dass meine Karte flotte 102 D-Mark kostete?
Abgesehen davon, dass ich – seitlich zur riesigen Bühne – als einer von 40 000 Fans im Stadion neben einem eher desinteressierten Mitglied des Bremer Senats saß, schien wirklich nichts Besonderes zu geschehen. Die Stones präsentierten sich in guter bis sehr guter Form, spielten weit über zwei Stunden Hit auf Hit, und das Wetter war prima. Und dennoch, ich hätte ahnen müssen, dass hier etwas Besonderes geschehen würde. Denn das erste Stück an diesem Abend war meistens das der letzten Zugabe: „(I can’t get no) Satisfaction“, der Monsterhit und Gassenhauer der englischen Rockband schlechthin.
Es war also ein ungewöhnlicher Auftakt der „Bridges to Babylon“-Show, die nach mehr als 20 Liedern mit einem fulminanten „Brown Sugar“ endete. Keith Richards war exakt wie selten beim Gitarrenspiel, Ron Wood scherzte mit ihm um die Wette, Charlie Watts drosch als praktizierender Stoiker aufs Schlagzeug ein, und Mick Jagger („Willkommen su Brämmen. Wieder schöhen, hier su sein“) … nun, Jagger war eben Jagger.
Von Song zu Song besser bei Stimme, setzte er die Ausrufezeichen der Show. Musikalisch wie konditionell. Die Stones zogen alle Register, begeisterten vor allem bei „Memory Motel“, „Honky Tonk Woman“ und „Sympathy for the Devil“.
Das tun sie eigentlich immer, bis heute. Warum dies trotzdem im Juni 2019 einer längeren Erwähnung wert ist? Nun, am 21. Juni veröffentlichen die Rolling Stones ein Album mit dem Titel „Bridges to Bremen“, und darauf zu hören ist das komplette Konzert von 1998 aus dem Weserstadion. Und ich war dabei gewesen, ohne zu ahnen, dass ich etwas zukünftig Besonderes erlebt hatte. Schließlich sind Hunderte von Stones-Konzerten auf obskuren (und nicht genehmigten) Raubpressungen dokumentiert, aber nur eine Handvoll sind mit dem offiziellen Stempel der Band künstlerisch geadelt.
Die Käufer des Albums (das als CD, Blu-Ray, Vinyl und Download vorliegen wird) können damit jetzt in bester Qualität hören, wie Chorsängerin Lisa Fischer bei „Gimme Shelter“ das hohe C weit hinter sich ließ, wie „Miss You“ mit 13 Minuten Länge fast schon psychedelisch ausuferte und wie Jagger seine Kollegen vorstellte: „An der Gitarren der verruckte Mann … Ronnie Wood!“
Im pickepackevollen Sonderbus ging es im Dunkeln zurück nach Hause, und wir alle sangen „You can’t always get what you want“. Das galt für den 2. September 1998 – nun aber kriegen wir doch noch, was wir wollten: eine Aufnahme jenes denkwürdigen Konzerts, von dem wir alle dachten, es sei nur eines von unzähligen Auftritten der größten Rockband aller Zeiten. Wir haben uns geirrt, im Rückblick.