Wir kennen ihre Gesichter, aber wir wissen nichts über sie. Wir kon- struieren uns Geschichten, aber kommen nicht ins Gespräch. Wir nennen sie Obdachlose, Bettler, Berber, Penner – und alle bleiben namenlos. Menschen ohne feste Bleibe sind mitten unter uns und doch so fern.
Der Münchner Autor Markus Ostermair hat diesen Randständigen der Gesellschaft jetzt ein furioses literarisches Denkmal gesetzt. „Der Sandler“ heißt sein Werk, das uns mitnimmt auf eine intensive Reise durch ein Paralleluniversum, von dem sich die allermeisten in der Realität nicht berühren lassen möchten.
Im Mittelpunkt steht Karl Maurer, der einst als Lehrer und Familienvater ein ganz gewöhnliches Leben geführt hat, bis das Schicksal erst mit einem großen Knall zuschlug und dann mit vielen kleinen Schritten ein stückweises Abrutschen einleitete.
Maurer versucht, im Münchener Alltag zu überleben. Zwischen Straße, Park und Sozialeinrichtungen findet sein Leben statt, in dem ein warmes Getränk und eine warme Mahlzeit einen Tageshöhepunkt darstellen und in dem er es längst gewohnt ist, die „Kollegen“, wie er andere Obdachlose nennt, nicht zu dicht an sich heranzulassen. Der Wunsch nach Nähe bei gleichzeitigem Argwohn ist nur einer von vielen Aspekten, die Markus Ostermair mit seiner ausgereiften Erzählkunst bravourös behandelt.
„Karl, du wirst dich ändern!“, lautet nach etwas mehr als einem Drittel des Romans ein Entschluss des Protago-nisten. Noch ahnt er in diesem Moment nicht, dass die Chance, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, in Form eines Wohnungsschlüssels auf ihn zukommt. Denn da ist noch sein Bekannter Lenz, der eine feste Bleibe besitzt, diese aber nicht nutzt – und sie an Maurer weitergeben will. Was für eine Wendung des Schicksals; wenn es doch so einfach wäre.
Der 1981 geborene Ostermair, der als Zivildienstleistender in der Bahnhofsmission tätig war, gelingt hier gleich mit seinem literarischen Debüt ein großer Wurf. Es ist kein Heischen nach Mitleid, es ist keine oberflächliche Gesellschaftskritik, es ist schlicht ein großartig komponierter Roman, der zu einem Kern vordringt, der normalerweise verborgen bleibt. Und jenen ein Gesicht gibt, die mitten unter uns und doch am Rande leben.