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Holocaust Die falschen Leiden des Otto Uthgenannt

Im Nordwesten - Der Mann mit der Kippa auf dem Kopf hält zwei Scheiben Brot hoch; das, sagt er den Schülern in Wildeshausen, war meine Essensration für zwei Tage, „könnt Ihr Euch das vorstellen?“. Die Schüler schweigen, wie sollen sich 16-Jährige so etwas vorstellen können: Hunger.

Sie sollen sich an diesem Vormittag noch mehr Unvorstellbares vorstellen: zum Beispiel Nazis, die in der Reichspogromnacht einen Vater verprügeln. Eine jüdische Familie, die Hals über Kopf nach Italien flieht. Einen überfüllten Güterwaggon, der die Familie ins KZ nach Buchenwald bringt. Morgenappelle in viel zu dünnen Häftlingslumpen. Kinder, die täglich die SS-Latrinen säubern müssen.

Und vor allem: diese ständige Angst vor dem Tod.

72 Verwandte, erzählt der Mann mit der Kippa den Schülern, habe er durch die Nazis verloren. Sein Vater, seine Mutter, die drei Jahre jüngere Schwester – sie alle starben im KZ Buchenwald, sagt er. Er überlebte als einziges Familienmitglied das Lager: Otto Uthgenannt, geboren am 28. Mai 1935 in Göttingen, heute 77 Jahre alt.

Eindrucksvoll schildert Otto Uthgenannt den Schülern das Grauen von Buchenwald. Was er verschweigt: Er selbst hat es nie erlebt.

In letzter Minute

Am Weimarer Ettersberg klebt kalter Nebel, die letzten Besucher klappen ihre Mantelkrägen hoch. Die Gedenkstätte schließt gleich, aber noch kann man durch das berüchtigte Lagertor gehen, zum Beispiel 150 Schritte geradeaus und 80 Schritte nach links, da stehen die Fundamente von Block 8. Block 8 war Kinderbaracke, hier könnten sie gelebt haben, Otto Uthgenannt und sein Freund Daniel, der am Tag der Befreiung des KZs sterben sollte.

Es gibt einen Aufsatz von Uthgenannt über Buchenwald, er verfasste ihn in den 90er-Jahren. Darin schrieb er, die Nazis wollten Daniel in die Gaskammer schicken. Aber: Gaskammern gab es in Auschwitz, nicht in Buchenwald.

Heute erzählt Uthgenannt vor Schülern, Daniel sollte erschossen werden. Erschießungen gab es in Buchenwald.

Kindliche Erinnerungen können irren, „wir sind da sehr tolerant“, sagt Dr. Harry Stein, Kustos für die Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald. Otto Uthgenannt war nach eigenen Angaben fünf Jahre alt, als er und seine Familie 1940 nach Buchenwald deportiert wurden. Und er war noch nicht einmal zehn Jahre alt, als am 11. April 1945 die amerikanischen Soldaten kamen, um buchstäblich in letzter Minute seinen Freund Daniel zu retten. „Wer sollte da nicht an Engel glauben, die nie zu spät kommen?“, fragt er bei seinen Auftritten die Schüler in Wildeshausen, in Jade oder in Wilhelmshaven. Ich glaube an Engel, sagt er.

Nur wenige Gehminuten vom Lagertor entfernt steht das ehemalige SS-Stabsgebäude von Buchenwald, im ersten Stock hat Harry Stein sein Arbeitszimmer. Neonröhren werfen sachliches Licht auf den historischen Lagerplan an der Wand, in Regalen lagern Aktenordner mit der Aufschrift „Gräber“ oder „Typhus“. Stein, 56 Jahre alt, spricht seit 28 Jahren mit KZ-Überlebenden. „Erinnerungen von Zeitzeugen sind nicht immer identisch mit dem, was wir erforscht haben“, weiß er. „Trotzdem bleiben es authentische Erinnerungen.“

Aber was Otto Uthgenannt da erzählt, sagt Stein, „das stellt alles auf den Kopf, was wir wissen“.

Stein listet auf: 1940 gab es gar keine Transporte von Italien nach Buchenwald, wie von Uthgenannt behauptet. Jüdische Kinder wurden erst ab 1944 nach Buchenwald deportiert. „Völlig falsch“ sei auch Uthgenannts Schilderung der Befreiung. Die Zahl der befreiten Kinder: „Keine Ahnung, woher er die hat“. (Uthgenannt spricht von 202, laut Stein waren es 904). Uthgenannts Neuanfang in einem Zürcher Waisenhaus: „Kann so nicht stimmen“.

Ein Name fehlt

Vor allem aber: Der Name Uthgenannt findet sich in keinem einzigen Archiv. Nicht in den Datenbanken der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, nicht im Gedenkbuch des Bundesarchivs in Koblenz, nicht in den Aktenordnern von Buchenwald. „Das ist eigentlich eine lückenlose Dokumentation“, sagt Harry Stein, „wir wissen von jedem Tag, wer da eingeliefert wurde.“

Im Judentum soll die Nennung der Namen die Toten vor dem Vergessen schützt. Aber die Namen von Vater, Mutter und Schwester Uthgenannt blieben ungenannt.

160 Kilometer westlich von Buchenwald, in Göttingen, steht auf dem „Platz der Synagoge“ eine sechs Meter hohe Metallplastik, darunter finden sich auf fünf Bronzetafeln die Namen von 282 „jüdischen Bürgern aus Stadt und Landkreis Göttingen, Kinder, Frauen und Männern, ermordet in dunkler Zeit 1933-1945“. Der Name Uthgenannt fehlt auch hier.

Den Schülern erzählt Otto Uthgenannt: Am 9. November 1938 sind die Nazis in sein Elternhaus an der Oberen Maschstraße eingedrungen, gleich gegenüber der Synagoge. Sie schlugen seinen Vater zusammen und grölten: „Ihr dreckigen Judenschweine!“

Die Meldekarten der Stadt Göttingen erzählen eine andere Geschichte.

Demnach haben die Uthgenannts nie an der Oberen Maschstraße gewohnt, sondern eine Kreuzung weiter an der Prinzenstraße. Sie waren auch keine Juden; Vater, Mutter, Tochter und Sohn Uthgenannt waren evangelisch. Der Vater zog als Soldat 1940 in den Krieg und kehrte 1947 aus dem sowjetischen Kriegsgefangenenlager 7125/6 heim. Die Mutter starb 1961 in Göttingen. Auch die Schwester starb nicht im KZ, sie lebt heute in Süddeutschland. Otto Paul Uthgenannt blieb bis 1963 in Göttingen gemeldet, danach verliert sich die Spur.

Bericht aus Amerika

Am 17. Mai 1989 berichtet die amerikanische Regionalzeitung „The Spokesman-Review“: In Coeur d’Alene (Idaho) haben US-Polizisten nach einer Verkehrskontrolle einen 53-jährigen Mann aus Westdeutschland festgenommen; der Mann trug zahlreiche gefälschte Dokumente bei sich. Es handele sich bei dem Mann um einen international gesuchten Betrüger und Scheckfälscher, schreibt die Zeitung weiter; er habe eine „umfangreiche kriminelle Vergangenheit, die bis zu seinen Teenager-Jahren zurückreicht“. Die Polizisten bringen den Mann ins nahe Kootenai County-Gefängnis.

Die Zeitung nennt auch den Namen des Mannes: Otto Paul Uthgenannt.

Am Sonnabend lesen Sie in der NWZ den zweiten Teil der Recherchen. Es geht unter anderem um die Frage: Was sagt Otto Uthgenannt zu den Vorwürfen?

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