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Einer Minderheit Auf Der Spur Willkommen in der Welt der Friesen

Sieben Seelande - Wie muss man sich das vorstellen: eine nationale Minderheit?

Zum Beispiel so: blaues Hemd, blaue Jeans, Dreitagebart, Vollzeitjob im Maklerbüro in Norden. Ralf Bieneck, 53 Jahre alt, sitzt dort unter Nordseefotos und sagt: „Wissen Sie, wer ein Friese ist?“ Kunstpause. „Sie sind ein Friese! Wenn Sie hier herziehen, das Land lieben und für das Land Ihren Einsatz bringen!“

Der Einsatz von Ralf Bieneck, geboren in Hannover, aufgewachsen in Oldenburg, hergezogen nach Ostfriesland, geht so: Er ist Mitbegründer der Partei „Die Friesen“ und mittlerweile ihr Vorsitzender. Er sitzt im Rat der Samtgemeinde Brookmerland und macht dort Friesen-Politik (Motto: „sozial, friesisch und frei“). Plattdeutsch hat er natürlich auch gelernt, „hat lange gedauert“, sagt er. An seinem Revers glänzt metallisch eine kleine Friesenflagge.

Kein Geburtsrecht

Vier von der Bundesregierung anerkannte nationale Minderheiten gibt es in Deutschland: die Dänen, die Sinti und Roma, das sorbische Volk – und die friesische Volksgruppe. „Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit ist die persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen“, betont das zuständige Bundesinnenministerium. Soll heißen: Es gibt kein Geburtsrecht, Friese zu sein. Entsprechend schwer ist die Frage zu beanworten, wie viele Friesen es gibt. Ralf Bieneck schätzt: „Allein in Niedersachsen komme ich auf rund 700 000.“

Einfacher zu beantworten ist die Frage: Wo findet man Friesen? Im Maklerbüro von Bieneck hängt neben den Nordseefotos eine Landkarte an der Wand, sie zeigt die „Sieben Seelande“, „Tota Frisia“, Gesamt-Friesland: West-Friesland (liegt in den Niederlanden), Nord-Friesland (liegt in Schleswig-Holstein), Ost-Friesland. Zu Ost-Friesland, geschrieben mit Bindestrich, gehören neben Ostfriesland der Landkreis Friesland, Wilhelmshaven, Teile der Wesermarsch, das alte Land Wursten vor Cuxhaven sowie das Saterland im Landkreis Cloppenburg. Bieneck klopft gegen die Landkarte und sagt stolz: „Wenn wir über alle Friesen sprechen, dann sind wir ein paar Millionen!“

Was nun endlich die Frage aufwirft: Was unterscheidet einen Friesen eigentlich vom Rest der Menschheit?

Eine Autostunde südlich von Norden, in Flachsmeer, sitzt Helmut Collmann in seinem Wintergarten: 76 Jahre alt, erst Lehrer, später Landtagsabgeordneter (SPD), heute Präsident des Interfriesischen Rates. „Sie wollen wissen, was einen Friesen ausmacht?“, fragt Collmann und lacht: „Ethnisch kriegen Sie die Frage nicht beantwortet.“

Das Bundesinnenministerium definiert die nationalen Minderheiten so: „Sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte (eigene Identität).“

„Die Sprache“, sagt auch Helmut Collmann, „ist etwas Besonderes.“ Allerdings haben die Ost-Friesen da ein Problem: In West-Friesland sprechen die Friesen Westfriesisch, in Nord-Friesland Nordfriesisch – nur in Ost-Friesland ist das Friesische ausgestorben. Dort pflegt man nun das (weniger exklusive) Plattdeutsch. Mit einer Ausnahme: Im kleinen Saterland hat sich das Saterfriesische erhalten, rund 2000 Sprecher gibt es dort. Noch.

„Wäl wol ounfange?“ Ingeborg Remmers blickt erwartungsvoll in die Runde.

Das hier ist die „Litje Skoule Skäddel“, die Grundschule Scharrel im Saterland, eine halbe Autostunde östlich von Flachsmeer, und vor Remmers sitzen 17 Kinder, 3. Klasse: Immersionsunterricht, Unterricht auf Saterfriesisch.

Wäl wol ounfange? Luca fängt an. 468 geteilt durch 3.

„Mathematik“, hat vorher Torben Hinrichs gesagt, der Schulleiter, „bietet sich besonders an für Immersionsunterricht, weil der Wortschatz dort begrenzt ist.“

Im Klassenzimmer kleben überall Schilder: „Handouk“ klebt über dem Handtuch, „Woaterkroan“ über dem Wasserhahn, „Bouke“ über den Büchern, „Mure“ an der Wand, „Dore“ an der Tür.

Wäl wul ounfange? Mattis liest eine Textaufgabe vor: „In Bäärsel stoant een Määlne“, in Barßel steht eine Mühle. Die Textaufgabe ist selbstgemacht, genauso wie die Saterfriesisch-App oder das neue Sprachbilderbuch „Die Seelterfoaks“, der Saterfuchs. „Arbeitsbücher gibt es sonst natürlich nicht“, sagt Hinrichs.

Von der Litje Skoule Skäddel sind es nur ein paar Schritte zum „Seelterfräiske Kulturhuus“, zum Saterfriesischen Kulturhaus im alten Bahnhof. Dort wartet Karl-Peter Schramm, den hier alle nur Kalle nennen. Kalle, 67 Jahre alt, pensionierter Sonderschullehrer, ist gebürtiger Oldenburger und freiwilliger (Sater-)Friese. Er hat versucht, Saterfriesisch zu lernen; jetzt macht er das, was er besser kann: Er tanzt in einer Volkstanzgruppe, er kämpft fürs Saterfriesische. Man könnte sagen, frei nach Ralf Bieneck: Er bringt seinen Einsatz für das Land. Im Kulturhuus hängt ein Bild, das Schramm mit der Bundeskanzlerin zeigt.

Ein verbindendes Gefühl

Schramm ist Mitglied im deutschen Minderheitenrat, der die Interessen der nationalen Minderheiten gegenüber Regierung und Bundestag vertritt. Er ist auch Vorsitzender des Europäischen Büros für Sprachminderheiten. „Wir fühlen uns als Deutsche“, sagt Kalle Schramm. „Aber wir sagen auch: Wir sind Saterfriesen – und wir wollen die Rechte als Minderheit in Anspruch nehmen.“

Die Rechte, dabei geht es vor allem um Geld und Unterstützung. Lehrerstunden für den Saterfriesisch-Unterricht müssen angerechnet werden, selbstgemachte Unterrichtsmaterialien bezahlt werden. „Es bleibt die bedrohteste Minderheitensprache, die wir haben“, warnt Schramm.

Aber da draußen, auf dem Schulhof, kann man sie hören, die Sprache. „Die Schüler sprechen das“, sagt Schulleiter Hinrichs, „es verbindet.“

Verbindung, das ist es: über Sprache, ob Saterfrieisch oder Plattdeutsch! Geschichte! Kultur! Die Friesische Freiheit: über den Friesen kein anderer Herr als der Kaiser – und das Meer. Der Deichbau! „Das hat zusammengeschweißt“, sagt Helmut Collmann in Flachsmeer. Aber auch: friesische Namen wie Eske, Dieke, Focko. Friesischer Sport wie Boßeln. „Friese zu sein, das ist ein Gefühl“, sagt Collmann. Kiek, das ist einer von uns!

Ein Gefühl, das so stark ist, dass 1952 die West-Friesen aus Holland einen Friesenkongress anregten: nur sieben Jahre nach der Befreiung von den deutschen Besatzern. Seither treffen sich West-, Ost- und Nord-Friesen im Interfriesischen Rat wieder regelmäßig, das nächste Mal im Juni auf Helgoland.

Regionale Geborgenheit

„Friese ist, wer sich als Friese fühlt“, das sagt in Norden auch Ralf Bieneck. Aber reicht das? Der Interfriesische Rat, „für mich ist das mehr eine Folklore-Einrichtung, mit Helgolandfahrt und Holzschuhen“, sagt er. Friesen bräuchten Friesen-Politik: eine eigene Stimme im Landtag, die sich für Küstenschutz stark mache, für Kultur- und Sprachförderung, kurz: Die Friesen brauchen eine Partei wie „Die Friesen“, die deshalb bis zum Europäischen Gerichtshof für eine Freistellung von der Fünf-Prozent-Klausel klagte. Ohne Erfolg.

Collmann, der SPD-Mann, ist der Meinung, dass die etablierten Parteien die Friesen-Interessen hinreichend vertreten können. Er wünscht sich etwas Anderes: „Wir müssen klären, was friesische Kultur heute ist. Das wäre doch ein Thema für eine Studienarbeit, zum Beispiel an der Uni Oldenburg.“ Und Folklore, „Folklore ist auch wichtig!“

In seinem Wintergarten dampft Tee auf dem Stövchen, Helmut Collmann reicht Kluntjes und Sahne, bitte nicht umrühren: Ostfriesische Teezeremonie. „Es ist doch so“, sagt er: „Globalisierung hin oder her – geborgen fühlt sich der Mensch nur regional.“

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