Oldenburg - Durch Vernachlässigung und Nahrungsentzug sind minderjährige Bewohner des Gertrudenheims während des Naziregimes offenbar gezielt getötet worden. Zu diesem Ergebnis kommt Hanna Tilgner in ihrer Bachelorarbeit „Pflege im Nationalsozialismus: Sterblichkeit im Gertrudenheim Kloster Blankenburg in Oldenburg in den Jahren 1937-41“.
Durch gründliche Recherche und Auswertung statistischen Materials habe die 25-jährige Studentin der Sonderpädagogik eine Forschungslücke geschlossen, sagte der Medizinhistoriker Ingo Harms von der Universität Oldenburg am Mittwoch bei der Vorstellung der Studie.
Zwar sei zu vermuten gewesen, dass die Lebensbedingungen im Gertrudenheim mit denen der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, wo Krankenmord, Zwangssterilisation und Kinder-Euthanasie zahllose Opfer forderten, vergleichbar waren. Bisher habe aber kein eindeutiger Nachweis geführt werden können.
Für ihre Studie wertete die Studentin mehrere hundert Patientenakten aus. Diese Akten, die inzwischen im Staatsarchiv lagern, hatte Ingo Harms vor einigen Jahren im Keller des Gertrudenheims an der Friesenstraße entdeckt.
Die im 19. Jahrhundert gegründete Einrichtung für geistig behinderte Menschen war 1937 ins Kloster Blankenburg verlegt worden, weil NS-Organisationen das Gebäude an der Friesenstraße selbst nutzen wollten. Letztlich zog dort der für den Absatz landwirtschaftlicher Produkte zuständige Reichsnährstand ein.
Im Kloster Blankenburg bezog das Gertrudenheim (Träger war damals der Landesfürsorgeverband, heute ist es der Bezirksverband Oldenburg) die Räume der zuvor nach Wehnen verlegten „Bewahr- und Pflegeanstalt“. In dem für 200 Patienten ausgelegten Gebäude „lebten im Durchschnitt 290 Menschen, überwiegend waren es Kinder und Jugendliche“, berichtete Hanna Tilgner.
Auch Jüngere mussten in der Landwirtschaft arbeiten. Betreut wurden die Bewohner von wenigen Diakonen und Diakonissen. Zeitweise kümmerte sich ein Betreuer um bis zu 20 Patienten.
Bereits im Sommer 1936, also Jahre vor der NS-Euthanasie, ordnete Carl Ballin (Regierungsrat im Innenministerium und Vorstand des Landesfürsorgeverbandes) massive Einsparungen bei der Verpflegung der Bewohner an. Das eingesparte Geld wurde laut Harms für kulturelle Zwecke (u.a. fürs Museumsdorf Cloppenburg) verwendet.
Hanna Tilgner kann in ihrer Untersuchung den Tod von 106 Heimbewohnern nachweisen. Diese Menschen seien zum Teil anonym auf dem Gelände beerdigt worden. 1941, nach der zwischenzeitlichen Schließung des Heims, wurde auf dem Friedhof ein Kesselhaus gebaut.