Darmstadt Kann man sich eine Tat bis ins letzte Detail einbilden, obwohl sie sich nie zugetragen hat? Möglich scheint es, zumindest wenn man der Frau zuhört, die sich im Darmstädter Landgericht mit tränenerstickter Stimme an die Vergewaltigung durch einen Lehrerkollegen erinnert. Aber die Sache hat einen Haken: Die Frau auf der Anklagebank im überfüllten Gerichtssaal hat ihre Geschichte nachweislich frei erfunden, wie ein Kasseler Gericht bereits festgestellt hat.
Dort war Horst Arnold, der angebliche Peiniger der Frau, vor zwei Jahren freigesprochen worden. Allerdings erst, nachdem er die volle Haftstrafe von fünf Jahren abgesessen hatte. Später stirbt er an einem Herzversagen. Sein Fall ist einer der größten Justizirrtümer der deutschen Rechtsgeschichte.
Die Hände der 48-Jährigen zittern leicht, die Stimme erstickt immer wieder in Tränen, als sie in ihrer langen Aussage auf den Tag im August 2001 zu sprechen kommt, an dem „die Sache, die Tat“ geschehen sein soll, wie sie behauptet. In einem Vorbereitungsraum der Schule in Reichelsheim (Odenwaldkreis) soll sich Arnold an ihr vergangen haben, die Frau erinnert sich an jedes Detail, an seine Jogginghose, die Brutalität und die Drohungen des Biologielehrers, an seinen Alkoholgeruch, als er ihren Wickelrock zur Seite geschoben und sich an ihr vergangen haben soll.
Behutsam tastet sich die Vorsitzende Richterin an die Frau und ihre vermeintlichen Erinnerungen heran. Kann das alles so passiert sein? „Die Tat habe ich sehr präsent im Gedächtnis“, behauptet die Angeklagte. Bei anderen Fragen zu den drei gescheiterten Ehen, den ungezählten Therapien und Schulwechseln geht es ihr nicht so: Zeitliche Abläufe, Namen, Details – etliches scheint für die Frau nicht mehr greifbar. „Das kann so gewesen sein“, antwortet sie oft auf Fragen der Richterin.
Nein, ist es nicht, sagt die Staatsanwaltschaft. „Wir gehen davon aus, dass die ganze Geschichte frei erfunden ist“, wirft ihr die Staatsanwältin vor. Das Motiv: die eigene Karriere. Die Frau könnte es auf den Posten des Biologielehrers abgesehen haben.
Die besondere Tragik des Falls: Horst Arnold hatte auch nach seiner Verurteilung 2002 zu fünf Jahren Haft stets seine Unschuld beteuert, nur ein Jahr nach seinem Freispruch 2011 starb er im Saarland an einem Herzinfarkt – genau an dem Tag, an dem Ermittlungen gegen die jetzt angeklagte Frau abgeschlossen wurden.
Wegen Freiheitsberaubung droht der Lehrerin eine Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren.