Brüssel/Berlin - Betrachtet man aktuelle Diskussionen zur Zukunft der EU, scheint die Diagnose klar: die EU muss sich ändern. Je nach politischer Überzeugung fallen die Forderungen, wie sie sich ändern soll, völlig unterschiedlich aus. Die Palette der Reformideen reicht vom Rückzug in nationale Grenzen über ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ (ein so genannter Kern und umliegende Sekundärstaaten) bis hin zur vollständigen Auflösung der Teilstaaten zugunsten eines gesamteuropäischen Staates nach Vorbild der USA.

Alles scheint denkbar – nur nicht die Beibehaltung des Status quo. Bürokratische Strukturen, demokratische Defizite und politische Blockaden werden bemängelt. Die Union hat, so könnte man diagnostizieren, die Erwartungen jener enttäuscht, um die sie permanent wirbt: der Bürgerinnen und Bürger. Diese Enttäuschung resultiert auch daraus, dass seit den Gründungstagen unklar bleibt, was für ein Konstrukt die EU eigentlich ist und – problematischer noch – künftig werden soll. Versteht man unsere Union als Staatenbund, so bleibt es höchst unbefriedigend, dass etwa eine gemeinsame Außenpolitik bis heute nicht recht in Gang kommt. Selbst sein Parlament kann nur in engen Grenzen Einfluss üben, da politische Themen maßgeblich von den Mitgliedsnationen und dessen Spitzenpolitikern eingebracht und beschnitten werden. Sieht man in der EU hingegen primär eine Organisation, ist die fehlende Entscheidungsfreude in „großen“ Fragen oft Quell des Unmuts. Ähnlich wie in einem Großkonzern beklagt man den Hang zur Trägheit. Und viele gewinnen den Eindruck, die EU verwalte ihren eigenen Betrieb statt jene Nationen, die ihr angehören.

Eine ganz andere Beschreibung, die diese Spannungsfelder in den Blick nimmt, bietet das Konzept der Metaorganisation. Mitglieder von Metaorganisationen sind nicht wie üblich Menschen, sondern auch Organisationen oder Staaten. Solche Konstrukte sind in Wirtschaftsverbänden oder globalen Organisationen weitaus häufiger anzutreffen, als man gemeinhin annehmen mag.

Die Bauart weicht von normalen Unternehmen oder Behörden deutlich ab. Eine Metaorganisation ist in hohem Maße von den eigenen Mitgliedern abhängig. Weil Konsens für die Entscheidungsfindung eine große Rolle spielt, aber eher selten zu erreichen ist, bleiben grundlegende Reformen häufig aus. Die weitgehend autonomen Mitglieder sind von hoher symbolischer Bedeutung für ein solches Bündnis. Treten sie aus, kann das ganze Projekt in Frage gestellt werden. Sie sind daher schwer auszuschließen, und selbst Sanktionen bleiben oft die Ausnahme. In der EU wird das durch die Rolle des EU-Rats sichtbar, der den Mitgliedstaaten durch das Einstimmigkeitsprinzip in einigen grundlegenden Fragen Vetorechte einräumt.

Schnelle Entscheidungen für große Reformen sind aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Einerseits wegen der Notwendigkeit vielseitiger Abstimmung, die alles Entscheiden massiv verlangsamt. Andererseits durch den Zwang zur Kompromissfindung. Ist man wirklich soweit, eine Reform in Gang zu bringen, sind längst neue Baustellen ausgemacht, die andere Reformideen nach sich ziehen. Das Problem der EU ist dann: heute ist sie mit ihren Vorhaben zu früh und morgen zu spät. Wirksame Veränderungen schleichen sich oft eher beiläufig ein, als dass man sie von langer Hand geplant im Griff hätte. Akute „Entscheidungsfreudigkeit“ resultiert insbesondere aus äußeren Zwängen, die die Mitglieder zu gemeinsamen Positionen drängen. Der Euro wird dann „gerettet“, weil ansonsten ein Kollaps der Finanzmärkte angenommen wird. Reformen dieser Art gehen wenig mit einem behutsamen Ausgleich von Interessen einher. Erhöhter Entscheidungsdruck kann so punktuell zu weitreichenden Entscheidungen führen. Für den „Normalbetrieb“ der EU erscheint dies aber eher als Ausnahme.

Alles das bedeutet nicht, dass geplante Veränderung gänzlich unmöglich ist. Die Einführung des Euro oder die Schaffung des Schengen-Raums sind Errungenschaften der Integration, die handfeste Folgen und strukturellen Wandel nach sich gezogen haben. Dennoch zeigt sich gerade hinsichtlich der Rolle des Parlaments, wie schwierig es ist, diesem gegenüber den Staats- und Regierungschefs im EU-Rat echte Macht zuzugestehen. Am längeren Hebel sitzen die Premierminister, Präsidenten und Kanzler der Union. Und sei es nur dadurch, dass sie durch Verweigerung Reformbestrebungen Einhalt gebieten.

Ein genaueres Verständnis der EU als einer Metaorganisation kann verstehen helfen, warum die Gründe für die berüchtigten Reformprobleme der Union zu großen Teilen in ihr selbst liegen; und warum es so schwierig ist, daran – mit dem nötigen Konsens – auf die Schnelle etwas zu ändern. Je weitreichender künftige Änderungen in die Struktur der EU eingreifen sollen, desto mehr sind daher weiterhin Sitzfleisch und Beharrlichkeit gefordert.

Aktuelle Buchpublikation:

Schütz, M./Bull, F.-R. (2017): Unverstandene Union. Eine organisationswissenschaftliche Analyse der EU. Wiesbaden: Springer VS.

Die Autoren Marcel Schütz und Finn-Rasmus Bull sind Organisationsforscher. Marcel Schütz ist Dozent an der Uni Oldenburg, Finn-Rasmus Bull, Fakultät für Soziologie, forscht an der Uni Bielefeld.