In Deutschland scheint es eine große Karl-Marx-Renaissance zu geben. Selbst Kardinal Reinhard Marx schwärmt von seinem Namensvetter, dem Theoretiker des Kommunismus. Warum hat Deutschland die Schrecken der Versuche vergessen, marxistisches Denken zu verwirklichen?
KnabeDieser Eindruck täuscht vielleicht etwas. Er wird vor allem in Marx’ Geburtsstadt Trier und von einigen Medien erweckt. Ich denke, der Normalbürger interessiert sich nicht besonders für Karl Marx und seine verquasten Schriften. Aber es ist schon auffällig, dass in letzter Zeit von einigen ein ausgesprochen unkritisches Marx-Bild gezeichnet wird. Dabei wird fast völlig unterschlagen, dass er der Vordenker der kommunistischen Diktaturen in Ostdeutschland und Osteuropa war. Insbesondere die Opfer dieser Diktaturen kommen in dieser ganzen Marx-Euphorie nicht vor – zum Beispiel, wenn Sie sich das Veranstaltungsprogramm der Stadt Trier zum 200. Geburtstag von Marx anschauen.
Hubertus Knabe (59) ist wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit. Der Historiker gilt als einer der profiliertesten Forscher zur Geschichte der ehemaligen DDR. Seine Arbeiten spielen eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung des kommunistischen Unrechts.
Nach einem Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx ist dieses Interview das zweite in einer Reihe zum 200. Geburtstag Karl Marx’. Es folgen zwei streitbare Essays, die den kontroversen Philosophen beleuchten.
Was macht Ihrer Meinung nach heute die Attraktivität von Marx aus?
KnabeUnter Journalisten und anderen Meinungsführern gilt es immer noch als schick, irgendwie links zu sein. Bei manchen hängt es auch mit ihrer Biografie zusammen, weil sie in ihrer Jugend einer kommunistischen Splittergruppe angehörten. Auch Konservative kokettieren zuweilen damit, einem linken Ideologen etwas Positives abzugewinnen. Bei den meisten kommt das aber eher aus dem Bauch, denn die wenigsten haben Marx wirklich gelesen. Letztlich ist es eine Mischung aus Unwissenheit und Mangel an Reflexion, den Erfinder des Kommunismus toll zu finden.
Allerdings konnte er ja nichts dafür, dass sein Denken derart missbraucht wurde…?
KnabeSo einfach ist das eben nicht. Die Grundzüge der kommunistischen Diktaturen hat Marx vorgedacht. Nicht umsonst haben sich die Diktatoren von Lenin bis Erich Honecker auf ihn berufen. Nehmen wird den absoluten Wahrheitsanspruch der Kommunisten. Marx zufolge haben nur die Kommunisten den Gang der Geschichte verstanden. Alle anderen Auffassungen sind unwissenschaftlich und „bürgerliches“, also falsches Denken. Auch die platte Vorstellung, dass jede Gesellschaft in zwei Klassen, in Gut und Böse zerfällt, stammt von Marx. Vor allem aber sein Credo, dass eine bessere Gesellschaft nur mit Gewalt zu erreichen ist, wirkte wie eine Ermächtigung zum Massenmord. Die Errungenschaften der Aufklärung – Menschenrechte, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit – waren für Marx hingegen nur Instrumente zur Sicherung der „Klassenherrschaft der Bourgeoisie“.
Wie sollte man angesichts dessen in der heutigen Zeit in der Bundesrepublik mit Marx umgehen?
KnabeVor allem kritisch. Wirklich spannend wäre es herauszufinden, warum aus einer humanistisch inspirierten Idee am Ende Diktatur und Terror resultierten. Das lag nicht daran, dass die kommunistischen Führer ihn missverstanden hätten oder seine Theorien nur falsch ausgeführt hätten. Es gibt vielmehr eine direkte Verbindung zwischen Theorie und Praxis: Marx sagt, dass die Gesellschaft in zwei Klassen zerfällt, von der eine vernichtet werden müsse – das ist der Freibrief für den Terror. Marx meint, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln beseitigt werden müsse – das ist das Ende der Freiheit des Individuums. Marx erklärt, nur durch eine gewaltsame Revolution können die Menschen zu ihrem Glück geführt werden – das ist die gefährliche Vorstellung von Diktatoren, dass der Zweck die Mittel heilige. Die Wurzel des Terrors liegt in Marx‘ Utopie, das Paradies auf Erden schaffen zu wollen. Das herauszuarbeiten, ist die eigentliche Herausforderung.
Allerdings passiert etwas ganz anderes: Da wird in Trier eine Marx-Statue errichtet, die fatal an DDR-Auftragskunst erinnert. In Wuppertal steht eine Engels-Statue. Wie kommt das zustande? Wie interpretieren Sie das?
KnabeEs wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet in Westdeutschland zwei Städte Statuen von Marx und Engels errichten – während sie im Osten nach dem Ende der DDR weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden sind. Dass diese Statuen auch noch aus den Händen einer kommunistischen Diktatur stammen, ist nachgerade zynisch. Die Stadtväter von Trier und Wuppertal zeigen hier ein Maß an politischer Naivität, das schon erschreckend ist – und für die Opfer des Kommunismus eine Zumutung.
Hätte Trier ablehnen sollen?
KnabeSelbstverständlich! Von Diktatoren nimmt man solche vergifteten Geschenke nicht an. Wenn es wirklich darum gegangen wäre, Marx mit einem Denkmal zu würdigen, dann gibt es dafür in Deutschland eingespielte Mechanismen: Da wird ein Wettbewerb ausgeschrieben, da reichen Künstler ihre Vorschläge ein, und da gibt es eine Jury, die den besten Entwurf ausgewählt. Ich bin mir sicher, dass da nicht so eine Statue im Stil des sozialistischen Realismus herausgekommen wäre.
Sie haben in Ihrer Tätigkeit viel mit Opfern des DDR-Sozialismus zu tun. Bekommen Sie da Reaktionen auf die Debatte, auf das Trierer Marx-Denkmal?
KnabeViele fassen sich an den Kopf. Viele schreiben mir. Viele fühlen sich – wie das eine ehemalige politische Gefangene aus der DDR bei einer Veranstaltung ausdrückte – zum zweiten Mal gedemütigt. Dass der Ikone des DDR-Sozialismus jetzt wieder ein Denkmal errichtet wird, wühlt viele auf und belastet sie.
Inzwischen gibt es Marx-Brot, es gibt Marx-Spielgeld und jede Menge kitschige Marx-Souvenirs. Wird Marx zu einer Art Gimmick und entschärft sich damit vielleicht selbst?
KnabeMag sein – und das hätte sogar etwas Gutes. Die Tourismus-Verantwortlichen in Trier gehen mit Marx offenbar so um wie Leipzig mit Bach oder Bonn mit Beethoven. Die Souvenirshops sind voll mit allem möglichen Krimskrams zu Marx. Damit findet eine gewisse Trivialisierung statt. Aber eben auch eine Verharmlosung, weil das dann der gemütliche Mann mit dem großen Bart ist, der in Trier sogar als Ampelmännchen fungiert – und nicht der Mann, der mit seiner Forderung nach der „Diktatur des Proletariats“ Millionen Menschen ins Unglück gestürzt hat.
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