Ensel: Dass er in seinem Alter nicht mehr der Jüngste ist, ist klar. Er war sehr freundlich, ausgestattet mit einem wachen Geist, in einer gewissen Weise auch dünnhäutig. Die Entwicklung in der Welt geht ihm sehr nah. Ich habe ihm gesagt, dass es mir das Herz zerreißt, miterleben zu müssen, wie sein politisches Erbe gerade mutwillig an die Wand gefahren wird. Und dass es in der Bevölkerung kaum Widerstand dagegen gibt.
Ensel: Über meinen Freund Prof. Ruslan Grinberg von der Akademie der Wissenschaften in Moskau, der engen Kontakt zu Gorbatschow hält und glänzend vernetzt ist. Ich war am 20. August, nach meinem ersten Treffen im April 2017, nun zum zweiten Mal bei Gorbatschow. Die Beziehungen zwischen Ost und West sind mein Lebensthema. Da sich die Zeiten ändern, habe ich immer wieder einen neuen Zugang dazu bekommen oder finden müssen. Seit 2014 bin ich wieder tiefer eingestiegen. Angesichts der aufkommenden Spannungen im Zuge der Ukrainekrise, machte ich mir intensiv Gedanken, wie man deeskalierend einwirken kann. Es geht für mich dabei nicht um die Frage: Wer hat Schuld? Es geht um die gesamte Sicherheitsstruktur zwischen Ost und West, die noch während des Kalten Krieges aufgebaut wurde und mit deren Hilfe der Kalte Krieg beendet werden konnte. Das steht jetzt alles auf dem Spiel, vor allem seit der INF-Vertrag Geschichte ist!
Ensel: Ich kann natürlich nicht für ihn sprechen. Was ich aus dem Gespräch mit Gorbatschow mitgenommen habe, ist, dass die Menschen in aller Welt wieder verstehen müssen, dass es den Frieden nicht geschenkt gibt. Man muss etwas dafür tun – gerade in Deutschland, wo es in den 80er Jahren eine sehr starke Friedensbewegung gab. Ohne Druck von unten wird sich nichts ändern!
Ensel: Der INF-Vertrag ist der bedeutendste Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte. Ich bin der Überzeugung, dass dieses Abkommen 31 Jahre lang einen Atomkrieg in Europa verhindert hat. Wir sind auf dem besten Weg zurück in die 80er Jahre – mit moderneren, zielgenaueren Waffen. Die Grenze zwischen „konventioneller“ und atomarer Kriegsführung wird immer durchlässiger. Es gibt bereits Denkschulen, die den frühzeitigen Einsatz von „kleinen“ Atombomben nicht ausschließen!
Ensel: Das Allerschlimmste ist, dass man Feindseligkeit heute fast gar nicht mehr braucht, um Kriege zu führen. Drohneneinsätze unterscheiden sich wenig von manchen Computerspielen. Und da zwischen Tat- und Leidensort viele Tausend Kilometer liegen können, müssen Sie keinen einzigen Menschen hassen, wenn Sie irgendwo in einem Raketensilo auf den Knopf drücken. Dazu kommt die ganz reale Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen, vor der Gorbatschow bereits vor Jahren gewarnt hat und die über Ost und West schwebt. Auch wenn es utopisch klingen mag: Gegen diese gemeinsame Gefahr müssen sich die Bevölkerungen in Russland und im Westen zusammenschließen! Das ist genau das, was Michail Gorbatschow schon vor 30 Jahren das „Neue Denken“ genannt hat.