Neumann: Seit 2017 ist die dschihadistische Welle des IS drastisch zurückgegangen. Nachdem das sogenannte Kalifat zerstört worden war, ist dem IS die Infrastruktur verloren gegangen, und der Mythos wurde zerstört. Es gab in den vergangenen Jahren eine Art Sinnkrise in der dschihadistischen Szene. Die Ideen dahinter sind natürlich nicht über Nacht verschwunden. Es gibt noch jede Menge Unterstützer, nicht mehr die großen organisierten Anschläge wie in Paris oder Brüssel, sondern eher Einzeltäter, die inspiriert sind, auf eigene Faust mit einfachen Mitteln etwas zu machen. Auch in Deutschland haben die Sicherheitsbehörden Hunderte islamistischer Gefährder identifiziert. Solche Anschläge von Einzeltätern haben wir in Paris und Nizza gesehen, aber auch in Dresden. Wegen des Streits um die Mohammed-Karikaturen scheint Frankreich aber im Fokus zu stehen. Dort lädt sich die dschihadistische Strömung an diesem Konflikt wieder auf.
Neumann: Es hat vor zwei Monaten mit dem Prozess um die Charlie-Hebdo-Karikaturen begonnen. Da gab es eine breite Berichterstattung und große Aufmerksamkeit für das Thema. Dann folgten das Attentat in Paris mit der Enthauptung des Lehrers und der Anschlag von Nizza. Dazu kamen eine internationale Kampagne und die Boykottaufrufe gegen französische Produkte. Dadurch wurde die Aufregung weiter befeuert. Einige dschihadistische Gruppen haben sich hier drangehängt.
Neumann: Ja, das hat er. Erdogan ist ein Populist. Sein politisches Kalkül ist es, dass es ihm bei seinen Anhängern nutzt, wenn er sich so an dieser Debatte beteiligt und seine Stellung in Teilen der muslimischen Welt erhöht. Er hat sich entschieden, die Temperatur nicht herunterzufahren, sondern noch zu erhöhen. Er sucht den Konflikt mit Macron und Frankreich und heizt ihn weiter an. Natürlich hat er nicht direkt zu Gewalttaten aufgerufen, aber zu einem politischen Klima beigetragen, das zu den Anschlägen geführt hat. Erdogan trägt eine indirekte Verantwortung für diese Konfrontation.
Neumann: Dafür gibt es zwei Erklärungen. Es gibt eine dschihadistisch theologische Erklärung: Die Enthauptung ist die Strafe dafür, wenn sich Menschen über den Propheten Mohammed lustig machen. Außerdem haben Anhänger des Dschihadismus im Laufe der Jahre gelernt, dass diese barbarische Art der Ermordung am meisten Panik und Einschüchterung auslöst. Es ist das Brutalste, was man sich vorstellen kann, und was für die meiste Aufmerksamkeit sorgt. Dieser Terror hat das Ziel, Angst und Schrecken auszulösen. Das gelingt am besten, wenn man jemanden auf sehr brutale und entwürdigende Art und Weise öffentlich hinrichtet.
Neumann: Auch in Deutschland existiert die Gefahr nach wie vor. Es gibt in Deutschland immer noch mehr als 600 islamistische Gefährder. Viele davon sind in Haft und im Ausland. Dennoch sind immer noch mehr als 100 von ihnen auf freiem Fuß. Das sind laut Sicherheitsbehörden ideologisch radikalisierte Islamisten, die zu Gewalt bereit sind. Der Fokus liegt aktuell auf Frankreich.