Sammelbände sind so eine Sache: Oft gibt es Qualitätsunterschiede zwischen den einzelnen Beiträgen, und man hat in der Regel darunter auch Texte, die nur von untergeordnetem Interesse sind. Für den Band „Merkel. Eine kritische Bilanz“ gilt ausdrücklich das Gegenteil.

Dem Herausgeber Philip Plickert, Wirtschaftsredakteur bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, ist es gelungen, einige der aktuell spannendsten politischen Autoren zusammenzubringen und im Spiegel ihrer Texte das politische Phänomen „Merkel“ einer bemerkenswerten Tiefenanalyse zu unterziehen.

Das Ergebnis beläuft sich auf nichts weniger als die Dekonstruktion der gängigsten Mythen über die deutsche Dauerkanzlerin. Spannend ist dabei besonders die 360-Grad-Perspektive des Bandes, also die Themenbreite. Da behandelt etwa der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt die Lage der Union unter Merkel, der Dominikaner Wolfgang Ockenfels ihr Verhältnis zum Christentum, Thilo Sarrazin Merkels Einwanderungspolitik und der Journalist und Ökonom David Marsh das Handeln der Kanzlerin in der Eurokrise. Perspektiven auf Merkels Außenpolitik liefern beispielsweise Anthony Glees und Andreas Unterberger. Birgit Kelle nimmt sich familienpolitischer Vorstellungen an, und Rafael Seligmann untersucht, wie Deutschlands Juden die Kanzlerin wahrnehmen.

Man sollte dieses Buch aber nicht auf der ersten Seite beginnen. Es empfiehlt sich, den Text des Historikers Ralf Georg Reuth über die DDR-Prägung Merkels zuerst zu lesen. Der Autor erledigt hier den Mythos von Merkels Ablehnung des kommunistischen Systems der DDR. Zudem vermag er, die bisweilen erschreckende Wendigkeit der CDU-Chefin beim Wechsel politischer Positionen, ihren politischen Opportunismus, überzeugend biografisch zu erklären und als ein für sie prägendes Charaktermerkmal herauszuarbeiten.

Das kann man als eine der Grundthesen des Bandes festhalten. Der Herausgeber im Vorwort: „Lässt man die Merkel-Jahre Revue passieren, findet man reihenweise planlose, undurchdachte Entscheidungen und abrupte, opportunistische Wenden.“ Ausführliche Belege finden sich in den Beiträgen zur Euro- und Flüchtlingskrise (David Marsh, Cora Stephan, Thilo Sarrazin, Necla Kelek) und der Energiewende (Justus Haucap).

Selbst Merkel durchaus geneigte Autoren wie Michael Wolfsohn („Ich sage ja zu Angela Merkel als Bundeskanzlerin.“) kommen nicht umhin zu konstatieren, dass Merkel in der „operativen Flüchtlingspolitik fast alles falsch gemacht (hat), was falsch zu machen war“. Ein weiterer Merkel-Mythos wird schließlich mit der Analyse ihrer ökonomischen Bilanz entzaubert (Henning Klodt und Stefan Kooths). Im Wesentlichen, so die Autoren vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, profitierte sie von der Arbeit ihrer Vorgänger. Die brillante Lage auf dem Arbeitsmarkt habe Deutschland Gerhard Schröder und seiner Agenda-Politik zu verdanken. Was Merkels wirtschaftspolitischen Grundsätze betrifft, seien diese eher von planwirtschaftlichem Denken als von Ludwig Erhard geprägt, schreibt der Historiker Daniel Koerfer.

Was bleibt am Ende der Lektüre? Zum einen die Erkenntnis, dass diese Kanzlerin noch nicht am Ende ihres Weges angelangt ist. Zum anderen aber auch die frohe Gewissheit, dass „nichts und niemand alternativlos ist“, wie es auch Philip Plickert am Ende seines Vorwortes schreibt.

Dr. Alexander Will
Dr. Alexander Will Mitglied der Chefredaktion (Überregionales), Leiter Newsdesk