Delmenhorst/Oldenburger Land - Vier Jungen flitzen mit ihren Rollstühlen durch die Sporthalle. Stoppen abrupt, wenden und nehmen wieder Fahrt auf. „Hierher“, ruft Fynn-Morris (11) und streckt die Arme hoch. Schnell reagiert Henry (11) und wirft ihm den Handball zu – Tor!
Seit Ende Oktober findet in der Halle des Delmenhorster Turnvereins jeden Mittwoch von 17 bis 18.30 Uhr ein Training für junge Rollstuhlhandballer statt. Andreas Giebert ist der Vater von Fynn-Morris – und der Trainer des kleinen Teams. Der 42-Jährige steht neben dem Spielfeld und gibt kurze Anweisungen.
Rückblick. Fynn-Morris ist auf den Rollstuhl angewiesen, ist mit der Wirbelsäulen-Fehlbildung Spina bifida („offener Rücken“) geboren worden. Doch seine Behinderung hielt ihn nicht vom Handballspielen ab. Gemeinsam mit seinem Bruder Ben-Louis (9) spielte er bisher in der E-Jugend des VfL Bad Zwischenahn. Doch das war nicht mehr möglich: Für die E-Jugend ist Fynn-Morris zu alt – und in der D-Jugend kann er als Rollstuhlfahrer nicht mitspielen.
Dem handballbegeisterten alleinerziehenden Vater ließ das keine Ruhe. „Im August kam die Idee, eine eigene Mannschaft zu gründen“, sagt Andreas Giebert, der im April mit seinen beiden Söhnen von Bad Zwischenahn nach Ganderkesee-Heide umgezogen ist.
Über Zeitungsartikel, Fernsehbeiträge und soziale Medien macht er auf seine Idee aufmerksam. Denn: „Im Basketball sind Rollstuhlfahrer durchaus bekannt, es gibt sogar eine Profiliga“, sagt Andreas Giebert. Doch im Handball gebe es nicht einmal Regeln. „Ich habe viele Videos angeschaut – manchmal spielen vier, manchmal fünf Spieler pro Team.“ An dieser Situation will der zweifache Vater, der bei der HSG Grüppenbühren-Bookholzberg als Schiedsrichterwart tätig ist, nun etwas ändern – und er ist auf einem guten Weg.
Auf dem Spielfeld bilden die Rolli-Fahrer Fynn-Morris gemeinsam mit Ben-Louis eine Mannschaft und treten im freien Spiel „Drei gegen Drei“ gegen Muhammed, Ann-Christin, eine freiwillige Helferin vom TV Neerstedt, die sich auch in einen Rollstuhl setzt, sowie „Läufer“ Toby an. Zwei weitere Mädchen fehlen an diesem Mittwoch krankheitsbedingt.
„Hier gibt es Inklusion einmal anders herum“, sagt Andreas Giebert. Viele Vereine würden die Idee mittlerweile unterstützen. Der Trainer möchte neben der Halle in Delmenhorst Trainingseinheiten auch an anderen Orten anbieten, um die Hürde der Entfernung zu überwinden. „Wir wollen Stützpunkte in den Landkreisen Oldenburg, Ammerland, Wesermarsch und der Stadt Oldenburg.“ Es gebe auch immer wieder Anfragen von Interessierten. Mit dem TV Neerstedt und der TSG Hatten-Sandkrug habe man sich schon auf eine – zumindest kurzfristige – Zusammenarbeit geeinigt.
„Das Ziel ist erst mal, ganz viele Kinder zusammenzubekommen“, sagt Andreas Giebert, während er schnell einen Rollstuhl repariert, der einen Zusammenstoß nicht ganz unbeschadet überstanden hat. Rollis fehlen – Sportversionen noch mehr. „Vielleicht entsteht aus dem Training irgendwann ein Spielbetrieb“, hofft der 42-Jährige.
Szenenwechsel. Immer wieder krachen die Rollis aneinander. Es gibt ein kleines Gerangel um den Ball. Allen ist die Freude beim Spiel anzusehen. Immer wieder landen die Bälle nach kraftvollen Würfen in einem kleinen Tor.
Andreas Giebert pfeift einmal kurz und verschafft sich Gehör. Eine Koordinationseinheit mit Slalomhütchen steht an. Fynn-Morris und Muhammed transportieren indes gemeinsam einen kleinen Kasten, den sie zwischen ihren Rollstühlen positioniert haben. Je zwei Kästen liegen umgedreht an den Längsseiten der Halle. Darin befinden sich Handbälle, die durch den Slalom-Parcours jeweils zum Kasten auf der anderen Seite gebracht werden müssen. „Dabei werden die Bewegung mit dem Ball und auch Täuschungen geübt“, sagt Andreas Giebert und gibt das Startzeichen. „Das spielerische und der Spaß stehen aber eindeutig im Vordergrund.“
Zwei Staffel-Teams werden gebildet. Schnell entwickelt sich ein Wettkampf mit lautstarken Anfeuerungsrufen und kleinen taktischen Spielchen – Läufer treten gegeneinander an, Rolli-Fahrer ebenfalls. Dennoch: Alle halten zusammen, loben sich gegenseitig.
„Es macht so viel Spaß“, sagt Fynn-Morris zwischen zwei Durchgängen. Und was genau? „Andere Rollstuhlfahrer kennen zu lernen“, sagt er und lacht – er ist eindeutig der schnellste im Parcours.
Henry war der Erste, der im Oktober zum Training kam. Vor ein paar Jahren spielte er noch Handball in Bremen, mittlerweile fällt ihm schnelles Laufen schwer, sodass er lieber im Rollstuhl sitzt. „Es ist richtig cool – hier ist man nicht so außen vor“, sagt auch der elfjährige Bremer. „Mein Traum ist es, eine Mannschaft zu gründen.“ Und auch bei der Spielposition sind sich Fynn-Morris und Henry einig: „Tore werfen“, sagen beide mit vor Freude strahlenden Augen.
Ein paar Mal war auch Muhammed (9) schon in Delmenhorst. Dafür fahren seine Eltern ihn extra aus Lemwerder zur Halle. „Ich habe schon viele Freunde gefunden“, sagt er lachend. „Es macht alles Spaß“, sagt der Neunjährige, dessen vordere Rollstuhlräder beim Drehen in leuchtenden Farben blinken. Und auch Toby (12), der an diesem Mittwochabend das erste Mal mitspielt, ist begeistert: „Es hat richtig Spaß gemacht“, sagt er. Neben den Gruppen steht Ann-Christin Rasche vom TV Neerstedt. Die 22-Jährige studiert soziale Arbeit. „Ich habe auf Facebook von dem Training erfahren und finde, dass es eine coole Aktion ist. Jetzt unterstütze ich Andreas beim Training“, sagt sie. „Ich bin beeindruckt, wie schnell hier alle integriert sind. Der Teamgeist ist wirklich toll.“
Ein Beispiel für die Begeisterung der Kinder: An diesem Mittwoch feiert Fynn-Morris seinen elften Geburtstag – und will unbedingt in die Sporthalle. Auf einer Bank an der Seite liegt eine Tüte mit Süßigkeiten.
Doch erst einmal drehen die Jungen noch ein paar Runden in der Halle – überhaupt sind sie ständig in Bewegung, genießen die gemeinsame Zeit. Außer Atem hält Fynn-Morris einen Augenblick neben seinem Vater an, trinkt einen Schluck und rollt dann wieder zurück zu seiner Staffel-Mannschaft.
Wird es bald auch einen Spielbetrieb geben? „Der Bedarf ist da“, sagt Andreas Giebert. „Ein Anfang in unserer Region ist gemacht.“