Hude/Bremen/Berlin - Sie haben ihn dann aufgehängt, so wie die anderen auch. Seinen Leichnam verbrannten sie, die Asche verstreuten sie in alle Winde. Nichts sollte an ihn erinnern können, so hatte es der Führer befohlen.
Es sollte anders kommen.
Das Tor neben der Huder Elisabethkirche ist schwer, Beate Reimer zieht mit beiden Händen am Gitter; kreischend ritzt das Eisen weiße Striemen auf den Bürgersteig. Hinter dem Tor öffnet sich eine Eichenallee, Grabsteine zu beiden Seiten, da links geht es zum Friedhofsgründer, Christoph Ernst von Witzleben, gestorben 1813. Aber Beate Reimer will nach rechts, wo die Eichen enger stehen und eine Sandsteinstele überdachen. „Erwin“ steht auf der Stele, „Generalfeldmarschall, geboren 1881, gestorben 1944“.
Nanu, wundert sich Reimer, sie zupft einen Schmutzfleck vom Stein: „Ich hatte ihn doch von oben bis unten geschrubbt?“ Pünktlich zum 70. Jahrestag des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 sollte die Inschrift wieder algenfrei sein: „Er kämpfte und starb für Freiheit, Glauben und Recht“.
Er: Das war Erwin von Witzleben. Beate Reimer, 46 Jahre alt, Förderschullehrerin aus Bremen, ist seine Urenkelin.
Kurzer Prozess
„Der Führer Adolf Hitler ist tot“ – so lautete der erste Satz eines Fernschreibens, das am Nachmittag des 20. Juli 1944 die Wehrbereichskommandos des Deutschen Reichs erreichte. Unterzeichnet hatte das Schreiben Erwin von Witzleben, neuer Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Doch schon bald sollte sich herausstellen, dass Hitler den Bomben-Anschlag durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg in der Wolfsschanze überlebt hatte. Der wütende Diktator kündigte „kurzen Prozess“ an: „Diese Verbrecher sollen nicht die ehrliche Kugel bekommen!“
Witzleben war einer der ersten Verschwörer, die verhaftet wurden. Am Vormittag des 21. Juli führten ihn zwei Offiziere aus dem Gästehaus seines Adjutanten in Seese (Brandenburg) ab. Im Haus war auch seine Tochter Edelgarde Reimer, Beates Großmutter. Das Letzte, was sie vom Vater sah, war die Hand auf dem Kopf seines Enkels. Auf Wiedersehen, mein Junge.
Edelgarde Reimer sprach wenig über das Thema, berichtet ihre Enkelin. Erst sehr spät gewann es an Bedeutung für sie. Sie war fast 100 alt, als sie in einem Interview gestand: „Den Tod meines Vaters verwinde ich nie. Diesen gütigen Mann so sterben zu lassen, dass ist unfasslich.“
„Lumpen!“ „Verräter!“ „Charakterschweine!“ Roland Freisler geiferte, im Berliner Kammergericht zitterten die Hakenkreuzflaggen. Hitler hatte dafür gesorgt, dass ein „Ehrenhof“ der Wehrmacht Witzleben und 21 andere Offiziere aus dem Heer ausschloss. Jetzt war nicht mehr das Kriegsgericht, sondern Freislers Volksgerichtshof für die Verschwörer zuständig.
Witzleben musste seine Hose mit den Händen festhalten, sie hatten ihm den Gürtel weggenommen. Im Mund fehlte die Prothese. Sie hatten ihn gefoltert, mit Dornenschrauben, Spanischen Stiefeln, Streckbrett. Er hatte 30 Pfund abgenommen in der Haft.
Freisler brauchte zwei Tage, am 8. August verurteilte er Witzleben und seine sieben Mitangeklagten zum Tod durch den Strang. Zwei Stunden später brachte man sie in Holzschuhen zur Hinrichtungsstätte Plötzensee. Die Henker legten ihnen kurze, dünne Schlingen um den Hals; nach jeder Exekution tranken sie einen Schnaps.
70 Jahre später nippt Beate Reimer im Garten der Huder Klosterschänke an einem Cappuccino, neben ihr sitzt Greta von Witzleben, 31 Jahre alt, sie wohnt gleich nebenan. Die beiden Frauen nennen sich „Cousine“, obwohl sie streng genommen keine sind: Ihre Familienzweige sind bereits vor zig Generationen weit auseinander gewachsen. Von Witzleben ist thüringischer Uradel, Beate Reimer gehört wie Erwin von Witzleben zur Elgersburger Linie, Greta zur Wendelsteiner. „Verwandt sind wir nur entfernt“, sagt Greta, „aber: Wir sind alle mit den gleichen Werten aufgewachsen.“
Die Werte, die die beiden Frauen nennen, findet man auch auf der Steinstele hinter dem Eisentor: Freiheit. Glaube. Recht. „Dazu gehört auch: Familie“, sagt Greta.
Der letzte Besitz
Nach dem Krieg waren die privaten Besitztümer der von Witzlebens im Osten verloren. Nur im Westen gab es noch ein Anwesen: Hude. Erwin von Witzleben konnte nicht begraben werden? Man entschied sich dafür, ihm auf der letzten Ruhestätte derer von Witzleben neben der Elisabethkirche in Hude ein Ehrenmal zu widmen. Im Juli 1963 wurde es eingeweiht, 54 Namensträger nahmen an der Feier teil.
Familiensinn als Wert: Edelgarde Reimer besuchte bis zu ihrem Tod mit 100 Jahren im Januar 2009 jährlich Hude. Heute kommt ihre Enkelin regelmäßig.
Ist sie stolz auf ihren Urgroßvater?
Beate Reimer lächelt. Ein Witzleben-Wert fehle noch, sagt sie dann: Bescheidenheit. „Ich trag’ das nicht vor mir her“, erklärt sie. In ihrer Familie sei das nie ein großes Thema gewesen. Sie selbst habe vieles erst aus der Biografie erfahren, die 2013 erschienen ist: „Wenn es gegen den Satan Hitler geht . . . – Erwin von Witzleben im Widerstand.“ Geschrieben hat das Buch übrigens Georg von Witzleben, noch so ein entfernter Verwandter. „Cousin“ sagen die beiden Frauen zu ihm.
Wider das Vergessen
In ihrem letzten Interview sagte Edelgarde Reimer über ihren Vater, den Verschwörer: „Er war nicht aktiv tätig, er hat sich zur Verfügung gestellt.“ Den Tyrannenmord habe er als Christ zunächst abgelehnt, dann stimmte er zu, „weil es keinen anderen Ausweg mehr gab“. Von Witzleben war kein Demokrat, er war Monarchist. Die Nazis mochte er nicht; bereits 1938 beteiligte er sich an Umsturzplänen.
Das sei noch so ein Witzleben-Wert, sagt Greta von Witzleben: „Nicht alles hinnehmen, nicht immer Ja sagen, kritisch bleiben.“ Zu seinem Richter Roland Freisler soll Erwin von Witzleben gesagt haben: „Sie können uns dem Henker überantworten. In drei Monaten zieht das gequälte und empörte Volk Sie zur Rechenschaft und schleift sie bei lebendigem Leib durch den Kot der Straßen.“
Es sollte ein wenig länger dauern. Freisler starb sechs Monate später bei einem Luftangriff auf Berlin, ein Balken soll ihn erschlagen haben. Weitere zwei Monate später erschoss sich Hitler.
Edelgarde Reimer sagte kurz vor ihrem Tod, das schlimmste Ereignis in ihrem Leben sei der 20. Juli 1944 gewesen, der zum Tod ihres Vaters führte. Das beste sei die Geburt ihrer Kinder gewesen.
Die Kinder bekamen wiederum Kinder, und deshalb gibt es heute Beate Reimer, die mit dem Schrubber gegen die Ehrenmal-Algen ausrückt. Am 20. Juli fährt sie zur großen Gedenkfeier nach Berlin, ihre Eltern kommen mit, ihre Nichte, auch Georg von Witzleben wird dort sein, der Buchautor, der Cousin.
Das schmiedeeiserne Tor, der Friedhof unter den Eichen, das Ehrenmal, der Name: Erwin von Witzleben, Generalfeldmarschall. Beate Reimer lächelt: „Ich möchte nur, dass er nicht vergessen wird.“