OLDENBURG - Eine der letzten Überlebenden von Auschwitz stammt aus Oldenburg. Ingrid Heimann lebt heute in Florida.

Von Bernd-Volker Brahms

OLDENBURG - Viele der etwa 600 000 deutschen Juden konnten vor Ausbruch des Krieges ins Ausland emigrieren. Für die in Oldenburg geborene Ingrid Heimann war Holland jedoch nicht weit genug. Sie wurde von Amsterdam über Westerbork nach Auschwitz deportiert.

Heute lebt die 84-Jährige in Florida. Wie lange Ingrid Heimann in Auschwitz war, weiß sie nicht, sie vermutet etwa ein Jahr lang. Sie habe große Erinnerungslücken.

Kurz bevor das Vernichtungslager von der Roten Armee befreit wurde, musste sie mit auf einen der Todesmärsche. Man ließ sie mehrere hundert Kilometer bis nach Kratzau (heute Tschechien) laufen, „Es starben sehr viele Menschen, es war Winter“.

Ingrid Heimann sitzt jetzt in Tamarac an einem kleinen Tisch in ihrer akkurat eingerichteten, noblen Reihenhauswohnung. Sie spricht mit einer warmen leicht rauen Stimme. Vor vier Jahren ist sie mit ihrem Mann Werner von New York nach Florida gezogen. „Das Klima ist hier besser“, sagt Ingrid Heimann.


Sie habe lange Zeit nicht über ihre Erfahrungen im Konzentrationslager reden wollen und auch nicht können. Erst spät sei sie damit angefangen. Ein Bademeister, den sie fast jeden Tag getroffen habe, sprach sie auf ihre eintätowierte Nummer im linken Unterarm an. „Ich habe ihm alles erzählt, was er wissen wollte“, sagt sie. Das sei etwa Mitte der 70er-Jahre gewesen.

1985 ist sie auch noch einmal in Oldenburg, dem Ort ihrer ersten 19 Lebensjahre, gewesen. Sie und ihr Mann, der aus Kaiserslautern stammt und noch als Jugendlicher rechtzeitig in die USA emigrieren konnte, seien von der Stadt eingeladen worden. Alles habe sie sich angeguckt. Das Geschäftshaus ihres Vaters in der Schützenstraße 20, wo dieser das Hamburger-Engros-Lager für Stoffe betrieb. „Es war ein sehr großes Geschäft“, erzählt Heimann. Die Nazis hätten ihren Vater Leopold Liepmann in den Ruin getrieben. Trotzdem habe dieser bis zuletzt seine Schulden bezahlt. Als der 62-jährige Mann 1938 nach der Pogromnacht einige Wochen nach Sachsenhausen verschleppt wurde, sei er als gebrochener Mann zurückgekommen. „Er hatte nie gedacht, dass ihm seine Landsleute so etwas antun.“

Bei ihrem Aufenthalt in Oldenburg vor 20 Jahren stieß Ingrid Heimann auch auf das Haus des Großvaters in der Nordstraße 2, wo die Familie zuletzt gelebt hatte. Auch einen Kaffeeklatsch mit ihren ehemaligen Klassenkameradinnen vom Gymnasium hatte es gegeben. Auf ihr Schicksal im Konzentrationslager wurde sie an diesem Nachmittag allerdings von niemand angesprochen.

Die Einladung, vor einer Schulklasse in Oldenburg zu sprechen, habe sie abgelehnt. „Ich wusste nicht, ob ich das durchstehe.“ Heute weiß sie, dass es für sie richtig war, es nicht zu tun. Bei einem jüdischen Gottesdienst sei sie zusammengebrochen. Der Aufenthalt in Oldenburg hat bei ihr sehr zwiespältige Gefühle hinterlassen.

Auf die Frage, ob sie noch einmal zurückkehren würde, sagt sie nur: „Ich weiß es nicht.“

Sie habe einen immer wiederkehrenden Albtraum, erzählt Ingrid Heimann, die abwechselnd Deutsch und Englisch spricht. Sie befinde sich in einer völlig ausweglosen Situation, und sie sei dabei auf sich allein gestellt, könne niemanden fragen. „Der Traum variiert ständig“.

Der Traum ist die Wiederkehr ihrer Situation in Holland. Die Familie zog 1939 nach Amsterdam und lebte bei einer Großmutter. Als sie selbst einer Arbeit nachging, wurden die Eltern eines Morgens verhaftet und deportiert.

Wo sie gestorben sind, weiß sie bis heute nicht. Ihr acht Jahre älterer Bruder war zu diesem Zeitpunkt bereits in den USA. Unter Todesangst lebte Ingrid Heimann in der niederländischen Metropole und arbeitete getarnt als holländische Frau beim Flugzeughersteller Fokker.

Mit einem der letzten Transporter sei sie dann aber doch noch über Westerbork nach Auschwitz deportiert worden. Wann das alles war, und wie lange sie in Amsterdam untertauchen konnte, das weiß sie heute nicht mehr. Sie habe es auch verdrängt, manchmal glaube sie selbst schon, dass das alles gar nicht passiert sei.

Auch habe sie nie eine Rente von der Bundesrepublik bekommen, so wie dies andere Holocaust-Überlebende häufig nach langem Hin und Her zugesprochen bekamen. Rückforderung wegen der Immobilien in Oldenburg habe sie auch nicht betrieben. Die Leute hätten sie oft gefragt, wie sie das Konzentrationslager habe überleben können. Es habe Frauen gegeben, die seien mit SS-Leuten ins Bett gegangen oder hätten selbst Grausamkeiten verübt, sagt sie. „Ich habe immer versucht, mich so unsichtbar wie möglich zu machen“, beschreibt Ingrid Heimann. Bloß niemanden in die Augen sehen, sei ihre Devise gewesen.

Nur ein einziges Mal hat Ingrid Heimann in einem größeren Stil über ihre Erfahrungen im Konzentrationslager gesprochen. Als Hollywood-Regisseur Steven Spielberg Mitte der 90er Jahre mit der Shoah-Foundation anfing, über 50 000 Überlebenden-Interviews aufzuzeichnen, da hat auch sie sich gemeldet.

Ihre Tochter Terri, die 1953 nur kurze Zeit nach ihrer Ankunft in New York zur Welt kam, hatte sie dazu ermuntert. „Ich habe mich beim Erzählen an einige Grausamkeiten erinnert, die ich vergessen hatte.“

Eine ganz abgelegte Erinnerung ist ihr auch an Oldenburg geblieben. Mit dem Namen Ingeborg Sophie Liepmann ist sie hier geboren. Bei der Emigration in die USA legte sie Ingeborg ab. „Das klang den Behörden zu schwedisch.“