OLDENBURG - Es klingt absurd: Um Schwimmer schneller zu machen, wurde ihnen Luft in den Darm gepumpt, Kraftsportlern sowie Sprintern wurden gesundheitsgefährdende, muskelaufbauende Arzneimittel verabreicht und das ausgerechnet von Sportmedizinern, die ihre Studien mit staatlichen Fördergeldern finanzierten.
Was eine Film-Szene sein könnte, war bittere Realität. Und zwar im Westdeutschland der 70er- und 80er-Jahre. Staatsdoping, um mit der DDR im sportlichen Wettkampf bestehen zu können: Gab es das wirklich? Ja absolut, bestätigt Andreas Singler von der Uni Würzburg: Man wollte im internationalen Wettbewerb mithalten.
Das Doping in der BRD zu Hoch-Zeiten des sogenannten Kalten Krieges habe System gehabt und war staatlich gewollt, betont der Würzburger Wissenschaftler: Die gezielte Täuschung der Öffentlichkeit wurde vom Innenministerium unterstützt, das Forschungsaufträge vergeben und finanziert hat.
Offenes Bekenntnis 1976
Ganz offen bekannte das Bundesministerium des Inneren (BMI), das auch für den Sport zuständig ist, erstmals 1976 seine Bereitschaft zum Doping. Am 21. Oktober überbrachte Ministerialrat Gerhard Groß anlässlich der Einweihung der Abteilung für Sport- und Leistungsmedizin an der Uni Freiburg die besten Grüße des damaligen Innenministers Werner Maihofer (1918 bis 2009).
Vor laufenden Kameras des Südwestfunks (SWF) ließ er dem Leiter Professor Joseph Keul (1932 bis 2000) ausrichten: Wenn keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit der Athleten herbeigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt grundsätzlich Ihre Auffassung.
Gemeint war der flächendeckende Einsatz von Anabolika. Für Singler ist das ein Skandal. Das war ein Bruch des Arzneimittelgesetzes, sagt der Anti-Doping-Experte: Die Freigabe war eigentlich illegal, weil die Mittel nur über eine Verschreibung, sprich einer medizinischen Notwendigkeit, hätten verabreicht werden dürfen.
Die Legitimation holte sich die Politik aus einer dubiosen Studie. Diese legte ausgerechnet Keul vor. Anfang der 70er-Jahre untersuchte der damals bereits hoch angesehene Sportmediziner an einer Gruppe von 15 Gewichthebern die Wirkung einer bestimmten Art von Anabolika. Einige bekamen das Präparat, der Rest ein Placebo verabreicht. Das Ergebnis: Anabolika führen nicht zu Gesundheitsschäden. Das war keine seriöse Untersuchung. Generelle Aussagen kann man aufgrund der geringen Probandenzahl nicht treffen, kritisiert der 46-jährige Singler.
Dennoch: Der Weg war geebnet und brachte den Sport damit in einen ethischen Konflikt. Damit hat Herr Keul die Beweispflicht umgekehrt, erläutert Singler. Es musste nicht mehr nachgewiesen werden, dass ein Wirkstoff gesund macht, sondern, dass er nicht schädlich ist.
Nach Wende weitergedopt
Die These, dass Doping nicht der Gesundheit schade, sei aber längst noch nicht ausgeräumt, sondern laut Singler immer noch aktuell: Den Mythos von der Unschädlichkeit gibt es auch heute noch, zum Beispiel beim Einsatz von Testosteron. Das männliche Sexualhormon ist im Ausdauersport allgegenwärtig: Es macht aggressiv, putscht auf und ist schwer nachweisbar. Bekanntester Fall ist Floyd Landis. Der US-amerikanische Radprofi wurde bei der Tour de France 2006 des Testosterondopings überführt. Ihm wurde der Sieg nachträglich aberkannt.
Auch mit einem anderen Mythos räumt Singler auf: dass es systemisches Doping in Deutschland nur während des Kalten Krieges gegeben habe. Doping ging auch nach der Wende 1989 weiter, stellt er fest: Es wurde weitergedopt mit Mitteln, die schwer nachweisbar sind.
Im Mittelpunkt stand erneut Freiburg. Im dortigen Bundesleistungszentrum sollen Sportler mit Wachstumshormonen behandelt und seit Anfang der 90er-Jahre soll zudem die Leistungssteigerung durch den Einsatz von EPO untersucht worden sein. Zwei Sportler wurden erwischt, einer von ihnen ist Patrick Sinkewitz, erläutert Singler. Der Radprofi aus Fulda sagte später als Kronzeuge über Doping-Praktiken aus.
Auch der Einsatz von Anabolika ist weltweit nicht erlaubt. Schon 1971 verbot der Leichtathletik Weltverband IAAF den Einsatz, 1974 setzte das Internationale Olympische Komitee (IOK) Anabolika auf die Dopingliste. Dagegen lief die Sportwelt Sturm nicht zuletzt aufgrund der Keul-Studie. Eine Kampagne Pro-Anabolika forderte die Freigabe , sagt Singler. Anabolika schädigen das Herz und können Krebs auslösen.
Öffentliche Empörung
Zur Wende in der Dopingfrage kam es nach Bekanntwerden des sogenannten Luft-Klestiers bei Schwimmern oder der Kolbe-Spritze dem Hamburger Ruder-Weltmeister Peter-Michael Kolbe wurde vor dem olympischen Finale 1976 eine Spritzenkur verabreicht, trotzdem reichte es nur zu Silber. Es gab einen öffentlichen Aufschrei. Das Konzept der Duldung und des Anabolika-Einsatzes wurde gesellschaftlich nicht akzeptiert, berichtet Singler.
Wissenschaftler wie Werner Franke oder Brigitte Berendonk stießen die Diskussion an. 1977 machte Harry Valerien Doping erstmals im Aktuellen Sportstudio des ZDF im Fernsehen zum Thema. Dafür wurde der TV-Moderator von einigen Politikern gerügt absurd.