Emden - Wenn über 100 Menschen zur Verlegung eines einzelnen Stolpersteins kommen, dann muss schon etwas ganz Besonderes dahinter stecken. So geschehen am Donnerstagvormittag vor der Johannes a Lasco Bibliothek. Dort wurde nicht nur der 400. Emder Stolperstein ins Pflaster gesetzt, sondern auch an einen besonderen Pastor erinnert: an Hermann Immer, der wegen seiner unbedingten Menschlichkeit und Fürsorge selbst in dunkelster Nazi-Zeit in Emden bis heute bewundert und verehrt wird.
Kirchlicher Widerstand
Gleichzeitig wurde des 90. Jahrestages der Barmer Erklärung gedacht – einem der bedeutsamsten Dokumente der Kirchengeschichte und quasi Gründungsurkunde der Bekennenden Kirche 1934, in deren Sinne auch der reformierte Pastor Immer im Bezirk Port Arthur/Transvaal gewirkt und Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die Nazis geleistet hat.
Und so waren neben etwa 25 Familienangehörigen aus ganz Deutschland auch viele weitere Vertreter aus Kirche und Gesellschaft Zeuge, wie die BEE-Mitarbeiter Horst Davids und Thomas van Hove den vom Kölner Künstler Gunter Demig angefertigten Stein in den Boden einließen. Nicht irgendwo. Sondern vor dem Ostportal der ehemaligen Großen Kirche, dessen „Schepken Christi“-Relief daran erinnert, dass hier schon in der Reformation Verfolgte und Vertriebene Zuflucht und Trost fanden.
Zuflucht und Trost gewährte Hermann Immer (geboren 1889 in Manslagt, gestorben 1964 in Bunde) auch den Notleidenden seiner Zeit. Als Ende der 1920er-Jahre die Arbeitslosigkeit stieg und viele Emder Arbeiterfamilien Hunger litten, wurden sein Haus und seine Familie zur „Sozialstation“. So schilderten es die Borssumer Oberschülerinnen Lisa-Marie Lauer (16) und Leonie Freese (17) aus der Klasse 10b mittels der biografischen Recherchen von Johanna Adickes (Arbeitskreis Stolpersteine).

Großes Interesse: So voll wie hier am Donnerstag am Ostportal der einstigen Großen Kirche war es bei einer einzelnen Stolperstein-Verlegung selten.
Gaby Wolf
Horst Davids vom Emder Bau- und Entsorgungsbetrieb setzte den 400. Stolperstein ein.
Gaby Wolf
Schülerinnen der Oberschule Borssum verlasen die Biografie von Hermann Immer, die Johanna Adickes vom Arbeitskreis Stolpersteine zusammengetragen hat.
Gaby Wolf
Angehörige der Familie Immer legten Blumen am 400. Stolperstein nieder.
Gaby Wolf
Rosen für Pastor Hermann Immer.
Gaby Wolf
Dankte den Borssumer Oberschülerinnen Lisa-Marie Lauer und Leonie Freese (2. und 3. von rechts) für ihren Erinnerungsbeitrag: Hermann Immers Enkelin Elisabeth Adler aus Oldenburg.
Gaby WolfKeine Mahlzeit ohne Fremde am Tisch, kein freier Raum ohne Notschlafplatz für Obdachlose. Auch später, als sich die politische Lage nach Hitlers Machtübernahme verschärfte, machte er keine Unterschiede zwischen Kommunisten, Sozialisten, Atheisten, sogenannten Arbeitsscheuen und Alkoholikern. Er lehnte die nationalsozialistisch geprägte „deutsch-christliche Reichskirche“ ab, stand auch jüdischen Mitmenschen bei. So geriet er ins Fadenkreuz von NSDAP-Kreisleiter Bernd Horstmann. Doch als dieser den damaligen Oberbürgermeister Carl Heinrich Renken 1939 dazu bewegte, Immer in „Schutzhaft“ zu nehmen, hatte er nicht mit den Emder Hafenarbeitern gerechnet. Gleich am nächsten Morgen stand Kranführer Jan Klaassen vor der Tür und verlangte, dass Immer am Sonntag darauf wieder in der Großen Kirche zu sehen ist, sonst „gifft’ Skandal bi uns in Hafen!“.
Das führte zu Immers Freilassung. Doch er bekam absolutes Tätigkeitsverbot, zudem drohte weiterhin die „spontane“ Einlieferung ins KZ. Dank unermüdlicher Eingaben vom Emder Kirchenrats-Vorsitzenden Jan Werda, von Peter Petersen und wiederum Jan Klaassen wurde das Verbot 1941 schließlich aufgehoben. „Diesen Einsatz hat Hermann Immer nie vergessen“, ergänzte Adickes. Als Klaassen wenig später psychisch schwer erkrankte, habe der Pastor dessen Einlieferung in eine der berüchtigten Landesheilanstalten verhindert. „Dort wäre er wohl Opfer der Krankenmorde, der Euthanasie, geworden.“ Klaassen und Immer seien wunderbare Beispiele dafür, wie Menschenliebe gelebt werden kann. „Wir sollten sie daher beide nicht vergessen“, sagte Adickes unter Applaus.
Appell und Geschenk
Nicht vergessen. Diesen Appell gab auch Immers Enkelin Elisabeth Adler aus Oldenburg den beiden Oberschülerinnen mit auf den Weg, zusammen mit einem Geschenk für ihren Stolperstein-Beitrag. „Ihr seid die Zukunft.“
Dass auch die Barmer Erklärung heute wieder mehr denn je als Auftrag zum Demokratie-Erhalt zu verstehen ist – das war am Donnerstagabend Thema bei einem gesonderten Festakt in der Johannes a Lasco Bibliothek.