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Landtagswahl in Thüringen Sonneberg – Eine ganz normale Stadt

Wahlkampf in Sonneberg: An den Straßenlaternen in der Kreisstadt im Thüringer Wald buhlen Wahlplakate um die Aufmerksamkeit der Wähler. Am 1. September wird in Thüringen ein neuer Landtag gewählt.
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Wahlkampf in Sonneberg: An den Straßenlaternen in der Kreisstadt im Thüringer Wald buhlen Wahlplakate um die Aufmerksamkeit der Wähler. Am 1. September wird in Thüringen ein neuer Landtag gewählt.

Luise Charlotte Bauer

Sonneberg - Der graue Asphalt schlängelt sich durch das dunkelgrüne Tal. Entlang der Berghänge rechts und links legt sich Nebel auf die Nadelbäume nieder. Rund 55 Kilometer Bundesstraße liegen zwischen der Abfahrt Naila/Selbitz auf der Autobahn 9 und der Kreisstadt Sonneberg. Diese Strecke beginnt in und endet in Thüringen, verbindet „den Westen“ mit „dem Osten“. Wer nun aber erwartet, dass hinter der ehemaligen innerdeutschen Grenze die Zivilisation im Landkreis Sonneberg endet, der täuscht sich. Vorbei an Autohaus, Tankstelle und Supermarkt; am Marktplatz (PIKO-Platz), Dönerladen und Wettbüro; an Apotheke, Drogerie und Optiker führt der Weg durch die Stadt Sonneberg. Sonneberg ist eine ganz normale Stadt.

Eine Stadt im Fokus

Eigentlich ist Sonneberg als Spielzeugstadt bekannt. 1913 wurde die Stadt im Thüringer Wald zur „Weltspielzeugstadt“. Doch seit etwas mehr als einem Jahr ist Sonneberg aus einem völlig anderen Grund im Fokus: Hier wurde Robert Sesselmann im Juni 2023 zum ersten AfD-Landrat Deutschlands gewählt. Zu einem Reiter der Apokalypse macht das Sonneberg dennoch nicht. Das zeigt ein Gespräch vor Ort.

Es war schwierig, Gesprächspartner zu finden. Viele scheinen nicht reden zu wollen: Sesselmann lehnte ein Interview mit unserer Zeitung ab und von der CDU haben wir auf mehrere Interview-Anfragen keine Antwort erhalten. Schließlich kam ein Termin mit Vertretern des Bündnisses „Sonneberg zeigt Haltung – Gemeinsam für Menschenwürde und Demokratie“ zustande:

„Wir gegen die“

In einem hellen Raum sind die Tische zu einem großen Kreis angeordnet. An ihnen sitzen Pfarrer Jörg Zech, Suptursekretärin und Prädikantin Denise Müller-Blech, Enzo Bacigalupo sowie Jugendreferent Georg Litty zusammen. Sie tauschen sich über die Stimmung vor Ort aus. „Es tut mir leid, dass sich im Moment so ein ‚wir gegen die‘ und ein ‚die gegen uns‘ entwickelt“, sagt Müller-Blech.

Wie es zu diesem Gegeneinander gekommen ist? „Ich glaube, so genau kann man das nicht bestimmen. Ich denke, viel hängt damit zusammen, dass sich viele Menschen benachteiligt fühlen und das immer Druck nach unten besteht.“ Damit meint die Suptursekretärin und Prädikantin, dass das Gefühl entstehe, dass manche weniger wert seien. Dabei ginge es den Menschen in Sonneberg gut und die Arbeitsplätze seien attraktiv. „Die Löhne könnten höher sein“, gibt sie zu, verweist aber auf die Nähe zu den bayerischen Städten Lichtenfels und Coburg. Zech bemerkt zudem eine Abwärtsspirale durch Krisen und negative Nachrichten, die die AfD für sich zu nutzen wisse.

Vermeidungstaktik

Oft tauschten sich die Menschen gar nicht mehr über Politik aus, schildert Müller-Blech. Ein Eindruck, den Zech teilt: „In unserem Bibelkreis zum Beispiel reden wir nicht mehr über Politik, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass man sich da in die Haare kriegt und anschreit.“ Seiner Erfahrung nach werden politische Themen gerade da vermieden, wo Menschen aus verschiedenen Schichten und mit verschiedenen Bildungen sowie verschiedenen Hintergründen zusammenkommen.

Eine andere Erfahrung hat Jugendreferent Litty mit „seinen“ Jugendlichen gemacht – sie reden über Politik. Ob sie das auch ohne seine Plattform machen würden? Das kann er nicht sagen. Allerdings konnte er beobachten, dass die Kommunikation inzwischen zivilisierter abläuft. Anfangs sei der Ton noch etwas aggressiv gewesen. Sein Kreis sei unspezifisch, bestehe aber aus vielen eher linksorientierten Jugendlichen und Mitgliedern der LGBTQ-Community. Auch mit Mi­granten arbeitet Litty zusammen. Die würden im Kontext „AfD“ nicht von sich aus über Politik reden – aber auf Nachfrage.

Dafür, dass die Debattenkultur bei den Jugendlichen ausgeprägter ist, sieht Litty einen ganz pragmatischen Grund: „Man kann das einfach verlangen. Die Jugendlichen, die nicht einverstanden sind, die müssen dann halt wegbleiben. Das ist unter Erwachsenen leider nicht möglich.“

Unter Erwachsenen spreche man bestimmte Themen nicht mehr an, weil man wisse, dass man damit eh nicht durchdringt, sagt Müller-Blech. Und der Einfluss der Kirche habe abgenommen, stellt Zech fest. „Da sind keine 20 Mann mehr, zu denen ich predige. Eher fünf bis zehn.“ Teilweise versuchten Rechte sogar die Kirche für ihre Zwecke zu vereinnahmen.

Ringen um den Umgang

Doch was folgt daraus? Wie sollte mit AfD-Anhängern umgegangen werden? Bacigalupo will sie „zurückholen“: „Einen Rechtskonservativen kann ich vielleicht auch irgendwann so weit zurückgewinnen, dass er sich sozusagen mehr oder weniger wieder auf dem Boden des rechten Teils der CDU befindet. Das sind nicht alles Nazis.“ „Dann sollen sie aus dieser Partei austreten bitte schön. Aber wenn ich mich mit jemandem gemeinmache wie Höcke, dann habe ich auch verdient, dass ich eine Antwort kriege“, sagt Litty darauf. „Wir sind hier an der Basis. Wir haben hier Menschen, denen wir überall gegenüberstehen. Aber wir sind an einem Punkt, wo die Leute, die vielleicht noch irgendwie zivilisiert sind, die unsere Nachbarn sind, demnächst ein Kreuz machen. Und wenn sie das Kreuz gemacht haben, dann haben wir eine Landesregierung oder zumindest einen Landtag, in dem Leute, die nicht der nette Nachbar sind, sondern schlimme Populisten, einen sehr großen Anteil an Stimmen haben. Die werden unser Land verändern.“

Wichtig sei für das Bündnis, aktiv etwas darzustellen, aufzuzeigen, was es will und was es anbietet. „Das ist ein schwieriger Weg. Und es ist natürlich ein Weg, den man nur bis zu einem gewissen Grad fahren kann“, so Zech. Irgendwann käme nämlich die Frage: Wenn ich für etwas bin, bin ich dann nicht auch notgedrungen gegen etwas?

Litty findet es gerade mit Blick auf die Jugend wichtig, sich abzugrenzen. „Was die Jugendlichen wollen, ist, dass wir uns hinstellen als Erwachsene, als Gesellschaft, als Kirche und sagen ‚Wir beschützen euch, wir stehen hinter euch, wir sorgen dafür, dass ihr leben könnt, dass ihr nicht bedroht werdet‘. Und das erreichen wir nicht, indem wir händchenhaltend sagen ‚Wir sind für Demokratie‘ – sondern indem wir sagen ‚Die, die gegen euch sind, gegen die sind wir‘“, so Litty.

Bundesweit erster Landrat der AfD: Robert Sesselmann ist seit dem 3. Juli 2023 im Thüringer Kreis Sonneberg im Amt (Archivbild)

LANDTAGSWAHL IN THÜRINGEN Schlagzeilen über ersten AfD-Landrat Robert Sesselmann

Luise Charlotte Bauer
Sonneberg

Mehr Aufmerksamkeit

Was sich in Sonneberg bereits verändert hat, ist die geschärfte Aufmerksamkeit, berichten Zech und Müller-Blech. So sei der Suptursekretärin und Prädikantin zum Beispiel deutlicher aufgefallen, dass Menschen mit Mi­grationshintergrund im Zug häufiger kontrolliert würden. Und manchmal sind es auch ganz kleine Dinge: So wies ihr Sohn Müller-Blech darauf hin, dass sie ihre Fingernägel vor dem Gespräch in einer anderen Farbe lackieren sollte, da deren Blau dem Blau der AfD ähnelte.

Gespalten ist die Gesellschaft längst, da sind sich Litty, Zech und Müller-Blech einig. Offen Aggressivität hingegen nehmen sie nicht direkt wahr. Doch bei Litty bleibt die Sorge, dass sich Rechte zunehmend sicherer fühlen und die Stimmung kippen könnte.

Letztlich drehte sich das Gespräch um die gleichen Probleme und Sorgen, die sich gerade überall finden lassen: die politische Bildung, der Zustand der Debattenkultur, der Umgang mit AfD-Politikern und AfD-Wählern, die Herausforderungen ländlicher Regionen und Unterschiede zwischen den sogenannten neuen und alten Bundesländern. Halt ganz normale Themen in einer ganz normalen Stadt.

Luise Charlotte Bauer
Themen