Seit rund zehn Jahren ist Bodo Ramelow Ministerpräsident von Thüringen. Bei der Landtagswahl am 1. September ist er erneut Spitzenkandidat der Linken. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er unter anderem über Frust, Neuwahlen, die AfD und das BSW.
Wie würden Sie die Stimmung zurzeit hier in Thüringen beschreiben?
Bodo RamelowEs gibt verschiedene Ebenen. Es gibt eine Ebene, die ich konkret erlebe. Die ist durchaus positiv und offen und mit einem höheren Maß an Neugier gekennzeichnet. Aber gleichzeitig gibt es eben auch ein immer wiederkehrendes großes Fragezeichen in allen Gesichtern. Was passiert hier eigentlich? Wir sind auf einmal Gegenstand einer nicht nur nationalen Berichterstattung, sondern tatsächlich auch internationalen Berichterstattung. Auf einmal tauchen Medien aus der Schweiz, aus Italien, aus Amerika, aus England auf – um hier unterwegs zu sein, um Stimmungsbilder einzufangen.

Bodo Ramelow ist seit 2014 Ministerpräsident in Thüringen. Seit 2020 führt er dort die Minderheitsregierung an. Für die Landtagswahl am 1. September dieses Jahres tritt der 68-Jährige erneut als Spitzenkandidat der Linken an. Ramelow ist in Osterholz-Schambeck geboren. Der gelernte Einzelhandelskaufmann war von 1981 bis 1990 Gewerkschaftssekretär in Mittelhessen, eher er 1990 nach Thüringen zog.
Luise Charlotte BauerWas macht das mit den Menschen?
RamelowIch merke, dass die Menschen irritiert sind, weil das, was über uns geschrieben wird, teilweise als unangenehm empfunden wird. Weil das, was über uns geschrieben wird, offenkundig mit den Lebenswirklichkeiten der Menschen hier wenig zu tun hat. Insoweit erlebe ich im Moment so was wie einerseits Motivation, aber andererseits auch ein gewisses Maß an Fassungslosigkeit über Dinge, bei denen man sagt „Also hoffentlich ist bald der 1. September und das Gespenst irgendwie fassbar“.
Haben Sie so eine Stimmung schon einmal erlebt?
RamelowDas habe ich so noch nie erlebt. Ich habe bereits große Unsicherheiten erlebt – Ich bin jetzt 34 Jahre in diesem Land. Ich habe den Anfang erlebt. Ich habe die ganzen Unsicherheiten vor 34 Jahren, vor 33 Jahren, vor 32 Jahren erlebt. Ich habe die Entindustrialisierung erlebt. Ich habe die schweren Schläge erlebt, als die Kaligrube Bischofferode endgültig zur Geschichte wurde. Das habe ich alles erlebt und durch durchlebt. Aber ich habe dabei immer wieder Menschen erlebt, die einerseits niedergeschlagen waren und gleichzeitig Menschen erlebt, die voller Euphorie waren. Und jetzt ist es so, dass wir eigentlich viele Gründe haben, ganz gut unterwegs zu sein. Wir haben 100 Weltmarktführer. Das kann man als kleines Bundesland mit Stolz zur Kenntnis nehmen. Das Problem ist: Es wird uns nicht widergespiegelt.
Wie meinen Sie das konkret?
RamelowDas heißt, wir haben keine Wahrnehmung von unserer eigenen Stärke. Das Einzige, was im größeren Maßstab diskutiert wird, ist, dass die Löhne und Renten zu niedrig sind. Was alles stimmt, gemessen am westdeutschen Durchschnitt oder am gesamtdeutschen Durchschnitt. Aber gemessen an denen, die vor 34 Jahren gestartet sind (nämlich alle, die aus dem sowjetischen Machtterritorium aufgebrochen sind) sind wir ganz vorne. Die innerdeutsche Solidarität hat die deutsche Einheit in der Wirtschaftskraft nach vorne gebracht. In der emotionalen Wahrnehmung passiert das Gegenteil.
Welche Gründe sehen Sie dafür?
RamelowIch sehe ein Gesamt-Kommunikationsproblem. Nehmen wir das Beispiel Europawahl: Auf einmal wird nach der Wahl die Landkarte gezeigt und in Ostdeutschland entsteht die ehemalige DDR und ist komplett blau. Dieses Blau ist aber nur Anzeichen für die stärkste Kraft in Relativität. Das sind 30 Prozent. Dass dabei aber 70 Prozent in der Wahrnehmung verschwinden, halte ich für ein Riesenproblem. Deswegen kämpfe ich auch für die 70 Prozent und rede über sie. Ich rede nicht nur über meine Partei oder meinen Posten. Ich rede über die 70 Prozent, weil ich sage: „Was erlauben wir uns, dass wir auf einmal das Gefühl aufbrechen lassen, in Ostdeutschland ist wieder alles doof?“
Gibt es ein Beispiel, bei dem die sogenannten neuen Bundesländer auf einer Karte positiver als die alten Bundesländer abschneiden würden?
RamelowWürden wir die Kinderbetreuung aufzeigen, würden wir eine ganz andere Landkarte kriegen. Da wäre Westdeutschland auf einmal der Verlierer und wir ständen top da. Aber das findet in keiner Wahrnehmungsdebatte statt. Deswegen sage ich, dass wir ein emotionales Problem haben. Das wiederum ist mit der Frage wie man Demokratie eigentlich selber wahrnehmen, selber spüren, selber durchdringen kann zu koppeln. Reicht es da alle fünf Jahre mal ein Kreuz zu machen? Ich bin ich ein vehementer Anhänger von mehr direkter Demokratie, damit auch Konflikte mal sichtbar werden bei Themen, an denen sich vielleicht auch Gesellschaft reibt.
Sollten wir denn überhaupt noch diese Unterscheidung zwischen „Ost“ und „West“ machen?
RamelowSie ist ja da. Die Frage ist nur, wie sie konnotiert wird. Wird sie vom Westen erzählt, sieht sie ganz anders aus. Wird sie vom Osten erzählt, kommt auf einmal so eine Bockigkeit „von denen lassen wir uns gar nichts sagen“. Das wird leider auch von Populisten benutzt, die das zum Sprachrohr machen, um den Ost-West-Unterschied produktiv nutzbar zu machen.
Sie haben bereits die Außenwahrnehmung erwähnt – oft geht es dabei um Fremdenfeindlichkeit. Ist diese ein „ostdeutsches“ Phänomen?
RamelowAus der Entstehungsgeschichte der 60er-Jahre will ich daran erinnern, dass Westdeutschland das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit kannte. Und heute tut Westdeutschland so, als wenn der Osten blöde wäre. Als wenn dort alle Rassisten wären. Nein! Wir haben hier kaum Fremde. Wir haben acht Prozent Nichtdeutsche. Wir brauchen Zuwanderung. Insoweit ist Fremdenfeindlichkeit für uns auch gesellschaftlich eine negative Herausforderung.
Welche Folgen hat das Vorurteil des „dummen Ossis“ heute?
RamelowDie Art und Weise, wie innerdeutsch kommuniziert wird – „Die Ossis sind doof, die können nichts, die kriegen nichts hin“ – hat was mit den Erfahrungen zu tun, die ihnen in den 34 Jahren ständig gesagt wurden. Ich habe erlebt, dass Westdeutsche gegenüber Ostdeutschen gesagt haben „Ihr denkt nur für die Hälfte, ihr arbeitet nur für die Hälfte, also kriegt ihr auch nur die Hälfte“.
Welche „ostdeutschen“ Themen können in der bundesweiten Wahrnehmung positiv besetzt werden?
RamelowWarum reden wir nicht über das Erfahrungswissen dieser Menschen, das auch in Oldenburg oder in Osterholz-Scharmbeck oder am Teufelsmoor als positiver Effekt der Veränderung verstanden werden würde? Zum Beispiel Landambulatorien: Krankenschwestern, die als Gemeindeschwestern unterwegs sind und die medizinische Versorgung im ländlichen Raum sichern. Wir könnten da ostdeutsche Themen als gesamtdeutsche, positive Veränderung setzen. Dasselbe bei der Kinderbetreuung.
In der Zeit, in der ich jetzt unterwegs war, habe ich viel Frustration über die Bundesregierung erlebt. Überlagern bundespolitische Themen die Thüringen-Themen?
RamelowNa klar. Die CDU plakatiert ja selber „Ampel stoppen, CDU wählen.„ Oder: “Grillen muss erlaubt bleiben“: Kein Mensch fordert ein Grillverbot, aber die CDU plakatiert so etwas. Die AfD macht ihren Wahlkampf komplett so. Sie ist gegen alles: gegen alles Europäische, gegen alles von der Bundesregierung. Der Kernsatz, der überall drüber wabert, lautet, die Ampel muss weg.
Oft fällt bei der Kritik an der Ampel immer wieder die Sprache auf das Heizungsgesetz. Wie groß ist der Schaden hier vor Ort?
RamelowWenn man da ins Detail geht und mit den Menschen anfängt, darüber zu reden, was bei dem Heizungshammer wirklich der Habecksche Anteil ist – außer dass es kommunikativ großer Mist war – dann sagen die Leute „Ach so, genau interessiert uns das nicht. Aber der Habeck ist Mist.“ Es gibt auf einmal so eine Hasskomponente, wenn es um die Grünen geht. Die Härte ist mir früher so nie begegnet.
Die CDU hat mit Ihrer Partei einen Unvereinbarkeitsbeschluss, mit der Partei von Sahra Wagenknecht (dem BSW) aber nicht. Ärgert Sie das?
RamelowDa bin ich dann ganz verwundert und denke, Frau Wagenknecht war lange bei mir in der Partei bei der Kommunistische Plattform. Sie hat mich immer kritisiert dafür, dass ich viel zu pragmatisch sei. Aber das geht für die CDU, wenn man sich löst von dem, was die Linke ist? Die Linke ist das schlechte Gewissen der Blockpartei CDU, die da gerne den Mantel des Schweigens drüber decken würde. Dass in der Zwischenzeit aber ein Jahr lang alle Bundesländer mich als Bundesratspräsident ausgewählt haben und bestätigt haben, sich von mir auch gut vertreten gefühlt zu haben, das ist dann der Widerspruch in der CDU.
Die CDU lehnt ja nicht nur mit der Linken eine Koalition ab, sondern auch mit der AfD. Welche Außenwirkung hat das, aus Ihrer Perspektive?
RamelowLinke und AfD werden gleichgesetzt und das Problem ist, dass damit die AfD verharmlost wird und die Linke verteufelt wird. Und wenn du sagst „Aber die Linke in Thüringen, das ist schon Bodo Ramelow“, hat das mit denen, die aus der SED aufgebrochen sind, fast gar nichts mehr zu tun. Da hat die Blockpartei CDU noch höheren Anteil an SEDlern, als wir. Das ist doch kurios. Das sind die Modelle des Kalten Krieges, die da drüber liegen und die zu Blockaden führen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
RamelowDas hat zu dem Desaster der Kemmerich-Situation geführt. 2019 habe ich die Wahl gewonnen, und zwar mit Bravour. Und es war der bitterste Wahlsieg meines Lebens – Als Wahlgewinner vom Platz zu gehen und trotzdem zu wissen, dass wir zu keiner handlungsfähigen Option kommen. Hinterher will es keiner gewesen sein. Alle die, die Kemmerich gewählt haben, können sich gar nicht mehr daran erinnern, dass sie daran beteiligt waren. Und selbst Herr Kemmerich kann sich nicht mal mehr daran erinnern, dass er keine Minister berufen hat. Er lebt von der Legende, dass er weggemobbt worden sei.
Ihnen wird in dem Zusammenhang vorgeworfen, dass sie Ihr Wort nicht gehalten hätten, da es keine Neuwahlen gegeben hat.
RamelowIch sage, das ist kurios. Herr Kemmerich hat eine Pressekonferenz gegeben, die Neuwahlen angekündigt und keinen einzigen Antrag gestellt. Wir haben einen Vertrag mit der CDU geschlossen, wie wir zu Neuwahlen kommen – den hat die CDU gebrochen. Dann habe ich vorgeschlagen, dass Christine Lieberknecht, meine Vorgängerin, Ministerpräsidentin wird, damit wir zu Neuwahlen kommen. Das hat die CDU kaputtgemacht. Ich meine, das muss man sich immer mal wieder sortieren: Ein Linker schlägt eine CDU-Frau vor, damit wir zu Neuwahlen kommen und die CDU sagt dann zu der Kandidatin „Aber du trittst nicht zurück“.
Ist es eine Angstreaktion der CDU, dass sie keinen Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem BSW hat?
RamelowEs ist die Unfähigkeit selber zu reflektieren, dass der Kalte Krieg vorbei ist. Das ist reflexartig der letzte Rülpser aus dem Kalten Krieg. Und dieser Rülpser hat dazu geführt, dass sich die CDU in Thüringen vier Jahre lang verweigert hat konstruktiv mitzuarbeiten. Wir haben 146 Gesetze und Verordnungen als Regierung gemacht, ohne eigene Mehrheit. Also irgendwie muss es mir ja gelungen sein, jedes Mal auch über die Gespräche zu vernünftigen Mehrheiten zu kommen. 22 Anträge davon waren CDU-Anträge, die damit in Realität gesetzt worden sind. Ich habe nie behauptet, dass ich mit einer eigenen Mehrheit regiere. Ich habe auch nicht versucht, das jemanden einzureden.
Sie sind seit rund zehn Jahren Ministerpräsident. Was haben Sie verpasst, um diese Frustration einzudämmen?
RamelowDiesen Teil der Frustration erlebe ich mit. Da kann ich nicht über Verpassen reden, sondern da rede ich nur noch über die Fassungslosigkeit, über die Kommunikation der Ampel. Ich würde die Ampel gerne für all das loben, was an Verbesserungen eingetreten ist, aber das geht in dem Chaos unter, das sie an Kommunikation organisiert. Dass man mal sagt „Da hat die Ampel die richtige Entscheidung getroffen“, das traut man sich gegenüber dem Bürger schon gar nicht mehr, weil im nächsten Moment schon wieder etwas kommt, das einem die Beine wegzieht.
Die Menschen sind aber nicht nur von der Ampel frustriert, auch von der Landespolitik.
RamelowEs gibt eine Frustration, für die ich Verantwortung trage. Das ist die Gebietsreform. Eigentlich wäre es um die Verwaltungsreform gegangen, und die Verwaltungsreform steht heute noch an. Am Ende ist aber nur noch über die Kreisstadt geredet worden. Über die dahinterstehende Form der Verwaltung und der Verwaltungsproblematik ist gar nicht mehr. Wir haben dann umgeschaltet auf freiwillige Gebietszusammenschlüsse. Das hat funktioniert.
Ist die Verwaltungsreform damit ad acta?
RamelowDie Verwaltungsreform bleibt unser Thema und auch der, der zukünftige Ministerpräsident wird sich dieser Frage umfassend stellen müssen. Wir haben jetzt schon 1000 Lehrerstellen nicht besetzt, weil wir keine Lehrer finden. Das Geld ist da, die Eingruppierung ist erhöht worden, die Verbeamtung ist wieder eingeführt worden. Wir haben viel Geld in Schule investiert. Wir haben 7500 Lehrer neu eingestellt. In meiner Amtszeit, das sind 43 Prozent des gesamten Lehrpersonals. Stellen Sie sich mal einen Betrieb vor, bei dem 43 Prozent des Personals komplett neu dazugekommen ist.
CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt hat den Vorschlag gemacht, dass nach dem zweiten Staatsexamen automatisch eine Festanstellung folgt. Wie stehen Sie dazu?
RamelowAbsolut einverstanden. Ich würde sie sogar schon vom Referendariat binden.
Warum ist das bisher nicht erfolgt?
RamelowWeil es haushaltsrechtlich die Voraussetzungen am Anfang so nicht gegeben hat. Aber eigentlich müssen wir die Nachwuchslehrer schon vom Referendariat her binden und deswegen machen wir was anderes: Wir gehen jetzt schon in die duale Ausbildung der Lehrer und haben den ersten Studiengang, der an der Uni Erfurt mit dualer Lehrerausbildung gestartet. Das ist einmalig in Deutschland und da werden wir gerade von Bewerbern überrannt.
Die Wirtschaft leidet unter anderem unter der Bürokratie. Gerade von kleinen Betrieben hört man, dass diese mit einem oder zwei Männern nicht bewältigbar ist. Wie geht das besser?
RamelowDas ist aber eine Debatte, die kenne ich schon mein ganzes Leben lang. Ich höre das den ganzen Tag. Ich höre die, die fordern, dass die Bürokratie abgeschafft werden muss. Das sind aber auch die, die am Ende, wenn irgendwas schiefgegangen ist, fragen, wieso das denn nicht dokumentiert worden ist. Es ist eine Wechselwirkung. Ich würde mir wünschen – und da sind wir dann wieder beim Thema Verwaltungsreform –, dass nicht drei oder vier verschiedene Verwaltungen auf einen Betrieb einwirken, sondern ein One-Stop-Shop für einen Betrieb zuständig ist.
Wie weit ist Thüringen dabei aktuell?
RamelowDa sind wir noch in einem im ersten Drittel des Umstellungsprozesses. Bei allem, was ich auf Corona schimpfe, aber da hat Corona eine Wirkung gezeigt: Die Digitalisierung ist auf einmal getriggert worden. Die ist vorher noch belächelt worden. Da ist ja alles noch per Hand auf Papier gemacht worden. Das verändert sich.
Eine weitere Belastung für die Wirtschaft ist der Fachkräftemangel. Wie wollen Sie den angehen?
RamelowZuwanderung. Deswegen haben wir ein Anwerbevereinbarungen mit Vietnam, haben eine Anwerbevereinbarung mit der Mongolei, sind gerade dabei mit Ecuador im Gespräch zu sein. Gezielte Anwerbung aus Ländern, in denen es deutsche Schulen gibt oder in denen die deutsche Sprache vorhanden ist. In Vietnam leben 300.000 deutschsprachige Menschen. Das kommt noch aus der DDR. In der Mongolei sind wir mit sechs Schulen verpartnert, die zu DDR-Zeiten dort gegründet wurden, die komplett auf Deutsch unterrichten und deren jungen Leute hierherkommen.
Für ausländische Fachkräfte ist es meist schwierig hierherzukommen. Wie geht das einfacher?
RamelowWir brauchen auch die Digitalisierung der Visaverfahren. Da muss der Bund jetzt liefern. Er hat die Voraussetzungen geschaffen. Da würde ich ihn jetzt gerne loben. Jetzt muss nur noch der bürokratische Mist abgebaut werden – Das ruckelt noch. Aber ich sehe das Ruckeln als ein Teil zum Bereinigen der Fehler. Und alle Menschen, die zu uns kommen, müssen das Recht haben, arbeiten zu gehen. Wir dürfen Menschen nicht mehr daran hindern zu arbeiten.
Ist die AfD inhaltlich zustellen?
RamelowDie Frage ist, was wollen Sie da stellen? Ich meine, Herr Voigt hat eine Debatte im Fernsehen geführt. Das hätte ich so nie gemacht. Herr Höcke lehnt es ab, mit den Medien zu reden. Er entscheidet, was über ihn berichtet wird oder was nicht. Und alles, was kritisch über ihn berichtet, nennt er Propaganda und Lüge. Und jemand, der von sich aus sagt „Wir werden mit der Lügenpresse nicht kommunizieren“, dem dann eine Plattform zu bieten und ihm zu ermöglichen ein scheinbares Gespräch auf gleicher Augenhöhe zuführen, bei dem der Kernsatz ist, ob man in Thüringen Gehacktes oder Mettbrötchen isst? Das finde ich hochproblematisch. Diese AfD hat ja keine Programmatik, die man mal schlüssig durchdringen könnte. Und jedes Mal, wenn man Herrn Höcke eine Frage stellt über ein inhaltliches Thema, sagt er: „Da haben Sie mich jetzt aber völlig falsch interpretiert.“
Was folgt für sie im Umgang mit der AfD daraus?
RamelowIch liebe das AfD-Plakat „Unser Land, unsere Regeln“. Ich finde das großartig. Warum hält sich Herr Höcke nicht daran? Warum hält sich Herr Bystron nicht daran? Warum hält sich Herr Krah nicht dran? Warum gelten die Regeln unseres Landes nicht für die, die das Plakat drucken? Und warum meint, dass nur Geflüchtete oder Asylbewerber, Fremde oder Ausländer? Und wenn man dann Herrn Höcke konkret stellt und sagt „In Ihrem Buch steht 20 Prozent können raus“, dann sagt er, das sei völlig falsch, was Sie sagen. Das habe ich jetzt dreimal erlebt. Für ihn sei Remigration der in Thüringen studierte Arzt, der nach Norwegen gegangen ist und zurückkehren soll. Und dann sitzen Sie da und fragen sich: Höcke hat geschrieben, 20 Prozent könnten weg. Wir haben 8 Prozent Nichtdeutsche. Wo kommen eigentlich die anderen zwölf Prozent her, die er noch weghaben will?
Sie setzen die AfD mit Höcke gleich?
RamelowDie AfD inhaltlich zu stellen heißt mit der Taube Schach spielen. Das geht nicht. Sie müssen die AfD über Herrn Höcke definieren, über Herrn Möller, über Herrn Brandner – also über die Repräsentanten, die im Bund oder im Land permanent damit beschäftigt sind, unsere Regeln zu unterminieren oder deutlich zu machen, dass ihnen unsere Regeln egal sind. Das Gefährliche ist die Normalisierung – die Alltäglichmachung des Faschismus. Da kann ich keine inhaltliche Stelle finden, an der ich irgendwas mit der AfD oder mit Herrn Höcke inhaltlich diskutieren könnte.
Nicht jeder, der die AfD wählt ist ein Rechtsextremer. Viele sind frustriert. Wie kann man diese Wähler „zurückholen“? Allein das Höcke vor Gericht steht, weil er SA-Parolen rausbrüllt, scheint nicht genug „Abschreckung“ zu sein.
RamelowNein, deswegen halte ich auch von der Nazikeule nichts. Die werden Sie bei mir nie erleben. Das ist auch Quatsch. Das ist eine Selbsterzählung der AfD. Die AfD erzählt, dass alle anderen gegen sie sind. Und deswegen sagt Höcke ja, er ist der wahre Vertreter des eigentlichen Deutschlands. Dieses Alleinstellungsmerkmal und diese Selbsterhebung, die darf man ihnen nicht auch noch durch pauschale Werturteile gegenüber den Wählern erleichtern. Deswegen rede ich über Herrn Höcke und nicht über die Wähler.
Manche Wähler machen ihr Kreuz bei der AfD, um sich an der Bundesregierung zu rächen.
RamelowUnd deswegen sage ich: Ein Teil des emotionalen Problems, das wir haben, ist, dass wir ostdeutsche Identität nicht im positiven Sinne spürbar machen. Die Gemeindeschwester Agnes ist etwas, auf das wir in Ostdeutschland stolz sind. Wir sind mehr als grüner Pfeil und Sandmännchen. Und dieses Positive nicht auszunutzen und spürbar zu machen, das ist der Mangel, den ich spüre. Und dagegen gibt es eine reflexartige Geschichte.
Nämlich?
RamelowDer Punkt ist, dass ein Teil der Wähler der AfD Herrn Höcke nicht will. Das sagen die Umfragen immer, wenn Sie beides fragen „Wen würdest du wählen, wenn Sonntag die Landtagswahl ist?“ und „Wen würdest du wählen, wenn du direkt wählen könntest?“.
Woher kommt diese Diskrepanz?
RamelowDiese Diskrepanz und Sie finden noch mal an einer anderen Stelle: Dem Thüringenmonitor. Dort kommt von Anfang an die Fragen drin vor „Wie geht es dir“ und „Wie geht es uns?“. Und das Paradoxon? Der überwiegende Teil – über 70 Prozent – sagen „mir geht es besser“. Die gleiche Kohorte sagt „uns geht es schlechter“.
Woran liegt das?
RamelowDas ist unerklärlich. Das hat aber was mit diesem emotionalen Delta zu tun, das nicht gefüllt ist. Menschen wollen mit ihrer Heimat verbunden sein. Deswegen sind die Menschen „Thüringer“. Menschen wollen nicht verunsichert werden. Deswegen triggert die Frage, ob eine Gesellschaft ein Aufstiegsversprechen hat oder die Angst, dass es den Kindern schlechter geht, eine ganze Gesellschaft. Das sind die Fehler, die wir über die Bundesregierung leider nicht geordnet gekriegt haben.
Das BSW hat sich von der Linken abgespaltet. Die Bundesvorsitzenden der Linken haben nun bekannt gegeben zurücktreten zu wollen. Wie sehen Sie die Zukunft der Linken?
RamelowDie Ankündigung war ein notwendiger Schritt. Ich kann die Vorsitzenden verstehen, denn der Druck auf sie war von Teilen der Partei seit der Europawahl groß. Allein ein Austausch von Personen reicht aber nicht. Eine neue Führung wird Teil eines grundlegenden Neuanfangs der Partei sein müssen, denn Die Linke braucht eine klare Führungs- und Handlungsstruktur, in die alle Landesvorstände und auch unsere Gruppe im Bundestag verbindlich einbezogen sind. Ich bin sicher, dass ein Aufbruch gelingen kann und wird.