Im Nordwesten - Die wenigsten queeren Menschen wachen eines Morgens auf und wissen plötzlich: „Ich bin queer.“ Der Prozess der Selbstfindung ist ein langsamer und komplexer. Und er spielt sich oft schon Jahre vor dem Coming-out ab, bei dem wir unsere sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität offenlegen. Bei einigen Menschen beginnt dieser Prozess schon in jungen Jahren, bei anderen erst im hohen Alter. Manchmal ist es eine große Überwindung, manchmal nur eine beiläufige Erwähnung wert.
Das Gefühl, das ich vor meinem Outing hatte, kann man in etwa mit dem Gefühl vergleichen, das man hat, wenn man in den Urlaub fliegt und glaubt, etwas vergessen zu haben: Man weiß, dass etwas fehlt, aber man ist nicht sicher, was es ist. Jahrelang lief ich unbekümmert und unwissend, aber eben auch unzufrieden durch die Welt. Und so wie mir ging und geht es vielen Menschen vor ihrem Outing. Bis einem irgendwann der Gedanke kommt: „Moment – bin ich queer?“
Ist dieser Gedanke erstmal in unserem Hirn angekommen, können wir kaum über etwas anderes nachdenken. Unsere Unsicherheiten und Selbstzweifel wachsen mit jedem Tag. Wir beginnen sogar, uns vor uns selbst zu rechtfertigen: Jeder findet Frauen hübscher als Männer, oder? Das muss ja nichts heißen. Klar, ich schwenke jedes Jahr beim Christopher Street Day die Regenbogenfahne und singe bei der Queer-Hymne „Born This Way“ von Lady Gaga besonders laut mit, aber nur, weil ich die Community unterstütze. Oder steckt mehr dahinter?
Jede soziale Interaktion wird bis ins kleinste Detail analysiert. Wir blättern in alten Tagebüchern und suchen verzweifelt nach Anzeichen, die wir zuvor übersehen haben. Erinnerungen aus unserer Kindheit nehmen neue Bedeutungen an. Wir verbringen Stunden damit, das Internet zu durchforsten, als ob Google uns einen personalisierten Bauplan für unsere Identität liefern könnte. Als ob das Quiz eines Frauenmagazins mit dem Titel „Wie lesbisch bist du?“ uns Erleichterung verschafft.
Obwohl wir wissen, dass das eigene Umfeld eigentlich total tolerant ist, stellen wir uns die schlimmsten Szenarien vor: Die Familie bricht in Tränen aus, sämtliche Freunde und Freundinnen rennen schreiend davon und uns bleibt nichts anderes übrig, als auszuwandern. Dabei ist die Reaktion, wenn man dann endlich mit der Sprache rausrückt, nicht selten wahrlich unspektakulär. So war es zumindest bei mir: Vom befürchteten Enthüllungsdrama keine Spur.
Die Sache ist aber die: Damit ist es nicht getan. Das Coming-out hört nie wirklich auf. Ein Leben lang outen wir uns immer wieder – bei neuen Bekanntschaften, neuen Kollegen und Kolleginnen oder beim Friseur. Jedes Mal, wenn wir uns in einer neuen Umgebung befinden oder neue Beziehungen eingehen, stehen wir vor der Entscheidung, ob und wann wir unsere Queerness thematisieren.
Glaubt man den Zuschriften, die ich regelmäßig erhalte, sollte ich meine sexuelle Orientierung gar nicht thematisieren. Zu intim sei diese Information und zu persönlich. Das ginge niemanden etwas an. Dabei oute ich mich schon in dem Moment, in dem ich „meine Partnerin“ statt „mein Partner“ sage. Automatisch wird meine Orientierung zum Thema. Ist es also auch zu intim, wenn eine heterosexuelle Frau beiläufig ihren Ehemann erwähnt? Oder gilt das nur für mich?
Aber im Ernst: Das Outing ist ein Akt der Freiheit. Und selbst, wenn der Weg dahin lang und herausfordernd sein kann, lohnt es sich, ihn auf sich zu nehmen, denn er führt zu einem authentischen Ich und einem erfülltem Leben. Wer sich also noch auf dem Weg befindet, dem möchte ich sagen: Er ist die Reise wert.
Autorin dieser Kolumne ist Maike Schwinum vom Reporter-Team Soziales. Als lesbische Frau hat sie es sich zum Auftrag gemacht, Vorurteile aus dem Weg zu räumen und die Menschen freundlich, aber bestimmt über ihre Community aufzuklären. In „Queer-Format“ schaut die 32-Jährige aus queerer Perspektive auf die Welt und teilt ihre Gedanken – von persönlichen Erfahrungen bis hin zu aktuellen Entwicklungen.