Im Nordwesten - Bauchschmerzen, Husten, Fieber: Wenn das Kind krank ist, müssen Eltern nicht zur Arbeit, sondern können sich um ihren Nachwuchs kümmern. Sie bekommen Kinderkrankengeld. Das gilt aber nur dann, wenn sie am ersten Tag der Krankheit mit ihrem Kind zum Arzt gehen und ein Attest holen: den sogenannten blauen Schein. Das ist nicht nur für die Kinder und Eltern anstrengend, die in der Nacht zuvor vielleicht kaum geschlafen haben, sondern sorgt auch für volle Kinderarztpraxen. Deswegen hat das Bundesgesundheitsministerium diese Regelung entschärft: Seit Mitte Dezember müssen Eltern nicht mehr mit ihrem Kind in die Praxis, um einen blauen Schein zu holen. Es reicht, wenn sie dort anrufen.
Tatsächlich aber funktioniert die neue Regelung kaum: Kinderarztpraxen im Nordwesten sehen in den meisten Fällen davon ab, den blauen Schein nur auf der Basis eines Anrufs auszustellen. Bei einer Umfrage unserer Zeitung unter Kinderarztpraxen in der Region stellte sich zum einen heraus, dass die meisten Kinderärzte und -ärztinnen nur in wenigen Einzelfällen Atteste ausstellen, ohne dass das Kind untersucht wurde. Zum anderen wurde deutlich, wie schwer es ist, die Praxen überhaupt telefonisch zu erreichen. In mehr als der Hälfte der Fälle ging trotz mehrfacher Versuche niemand ans Telefon.
Zwei triftige Gründe
Dr. med. Tilman Kaethner, Landesverbandsvorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Niedersachsen, erklärt, warum die neue Regelung zum blauen Schein kaum genutzt wird. „Es gibt zwei Gründe. Erstens ist die telefonische Erreichbarkeit der Praxen aufgrund des Mitarbeitermangels sehr schlecht. Uns fehlen massiv Mitarbeiter. Es ist fast nicht möglich, extra eine Fachkraft ans Telefon zu setzen. Deswegen empfehlen wir den Eltern, lieber direkt zum Arzt zu fahren.“
Kaethner betreibt selbst eine Kinderarztpraxis in Nordenham. Besonders liegt ihm daher der zweite Grund am Herzen: „Gerade bei Kindern verschlechtert sich der Zustand oft rapide. Das kann sehr schnell gehen und dann wird es kritisch. Deswegen ist es mir wichtig, dass ich in den meisten Fällen wenigstens einen Blick auf das Kind geworfen habe, bevor ich einen blauen Schein ausstelle.“ Wenn zum Beispiel ein Zweijähriger sehr schnell atme, könne es sich um eine obstruktive Bronchitis handeln. „In ganz kurzer Zeit bekommt das Kind Atemnot und dann muss ein Krankenwagen kommen.“
Verantwortung der Ärzte
Im Sinne des Kindes müssten die Kinderärzte also ihre Verantwortung ernst nehmen, sagt der 69-Jährige. „Bei Erwachsenen ist das anders: Die können ihren Gesundheitszustand in der Regel selbst gut einschätzen. Da funktioniert das dann eher mit der telefonischen Krankschreibung.“
Die Idee des Gesundheitsministers, das System an der Stelle zu entlasten, sei zwar ehrenhaft gewesen, in der Praxis aber kaum umsetzbar. Das Bundesgesundheitsministerium verweist auf Nachfrage unserer Zeitung nur darauf, dass es ja kein Anrecht auf die telefonische Krankmeldung gebe. „Es liegt in der Verantwortung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte unter Beachtung der gebotenen ärztlichen Sorgfalt, ob Sie von der Möglichkeit der telefonischen Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeit Gebrauch machen“, teilt das Ministerium mit. Kinderarzt Kaethner sieht das anders: „Wenn wir den blauen Schein telefonisch ausstellen würden, läge die Entscheidung dafür ja bei der Arzthelferin, die ans Telefon geht. Damit würden man ihr die Verantwortung übertragen – und das passt nicht.“