Ostfriesland/Wittmund - Wer nach einem Verkehrsunfall oder bei einem Brand schonmal den Notruf wählen musste, der weiß, wie lange sich 100 Sekunden anfühlen können. Genauso lange geht nämlich ein durchschnittliches Notruf-Gespräch. Und während viele Anrufer in solchen Situationen in Panik verfallen und kaum ein Wort herausbringen können, bewahren die Mitarbeiter der Kooperativen Leitstelle Ostfriesland auf der anderen Seite des Hörers Ruhe. Das ist wichtig, denn jede Information und jede Sekunde zählt, wenn es um Leben und Tod geht. „Wenn Menschen reanimiert werden müssen, dann ist bereits in den ersten 20 Sekunden der Rettungsdienst informiert“, erklärt der Leiter der Leitstelle Michael Grönheim.
Begleitete Reanimation
Und damit ist es nicht getan. Die Mitarbeiter bleiben am Apparat und begleiten die Reanimation, bis die Rettungskräfte eintreffen. Ruhe ist hier eine Tugend, weiß Grönheim: „Wenn Eltern zum Beispiel ihr Baby leblos auffinden und hier anrufen, dann hört man nur Geschrei.“ Um zu helfen, sei es aber wichtig, die Eltern abzuholen – und das sei nur möglich, wenn man das Gespräch wieder in eine ruhigere Bahn lenke.
Die Nervenstärke kommt dabei nicht von ungefähr. Alle Mitarbeiter sind krisenerprobt. Sie alle waren zuvor entweder im Katastrophenschutz, beim Rettungsdienst oder der Feuerwehr tätig. Sie wissen, wie man Brände löscht oder eine Blutung stillt. Das ist Grundvoraussetzung, um hier zu arbeiten, erklärt Grönheim. Hinzu kommt eine achtwöchige Ausbildung.Wichtig ist auch, dass man Platt versteht. Weitere Fremdsprachen – wie ukrainisch – seien auch von Vorteil. Grundsätzlich seien die Mitarbeiter so ausgebildet, dass sie alle Anliegen koordinieren können – egal ob Unfall, Krankentransport oder Brand, sagt Grönheim.

Andreas Schoon, Schichtführer, an seinem Arbeitsplatz.
Larissa Siebolds
Viele Bildschirme und nur zwei Augen: Das Herzstück ist das Einsatzleitsystem in der Mitte. Auf den Bildschirmen sind unter anderem eine Niedersachsen-Karte, eine Wetterkarte, eine Übersicht, welche Fahrzeuge sich wo befinden. Außerdem sind laufende Notrufe zu sehen. Auch die Krankenhausbelegung behalten die Mitarbeiter im Blick.
Larissa Siebolds
Andreas Schoon, Schichtführer.
Larissa SieboldsDie Kooperative Leitstelle Ostfriesland nahm vor fast zehn Jahren die Arbeit in der Agnes-von-Rietberg-Straße am Standort Wittmund auf – zunächst nur für den Landkreis Wittmund. Im selben Monat kamen noch die Landkreise Aurich und Leer hinzu. Die polizeiliche Seite betreut außerdem die Stadt Emden – insgesamt gehören 34 Dienstellen der Polizei dazu. 159 freiwillige Feuerwehren und 23 Rettungswachen zählt die Kooperative Leitstelle in ihrem Einsatzbereich. Die Mitarbeiter betreuen damit insgesamt 33 Städte und Gemeinden – das sind fast 500 000 Einwohner. In der Urlaubersaison kommen zudem weitere Personen hinzu, insbesondere auf den Ostfriesischen Inseln. Zum Zuständigkeitsbereich gehören zudem sechs Inseln, ausgenommen Wangerooge.
Im Jahr 2023 sind bei der Leitstelle fast 150 000 Notrufe eingegangen, davon 100 000 über die 112. Der durchschnittliche Notruf dauert etwa 100 Sekunden. Hinzu kamen rund 88 000 „sonstige“ Anrufe – zum Beispiel für die Anmeldung von Krankentransporten und Amtstelefonate.
Mit Stand April 2023 hat der kommunale Bereich 37 Angestellte, davon werden 22 als Disponenten und acht als Schichtführer eingesetzt. Auf der polizeilichen Seite versehen 29 Beamte und neun Angestellte ihren Dienst, heißt es auf der Internetseite der Leitstelle unter www.krlo.de.
Bei Heiko Hara, Schichtführer, geht gerade ein Notruf ein. Die Lampe an seinem Tisch leuchtet rot auf, er ist nun im Gespräch. „Es wurde ein Verkehrsunfall mit einer eingeklemmten Person in Hinte gemeldet“, sagt er im Anschluss. Neben dem Namen, dem Unfallort und der Anzahl der Beteiligten fragt Hara auch, unter welcher Nummer er zurückrufen kann.
Noch am selben Tag ein weiterer Anruf: Unfall mit 14 Personen. Bei solchen Meldungen muss noch mehr koordiniert werden, verrät Hara. Wie geht es den Menschen? Wie viele Einsatzkräfte müssen entsandt werden? Welches Krankenhaus hat freie Plätze? Welcher Krankenwagen ist in der Nähe? Werden Brandschützer benötigt?

Psychische Gesundheit
Auch wenn solche Anrufe für die Mitarbeiter zum Alltag gehören, einfach ist ihr Job nicht, weiß Arnold Mühlena aus Nesse. 91’ begann er im Sanitätsdienst beim Fliegerhorst in Upjever. „Ich wollte aber mehr mit Notfällen zu tun haben und bin zum Rettungsdienst gegangen.“ 2011 verabschiedete er sich aber auch von dieser Arbeit und wechselte zur Leitstelle – damals noch in Aurich. „Ich habe so viel Schreckliches mitbekommen. Ich hatte diverse Notfälle mit toten Kindern.“ Ein Erlebnis war für ihn besonders einschneidend: „Es gab einen schweren Verkehrsunfall in Leer, wo Leute aus meiner Gemeinde umgekommen sind. Ein Notfallseelsorger hat danach in Hage einen Gottesdienst gehalten. Ich war dort.“ Seitdem engagiert er sich als Seelsorger in der Leitstelle, weil er weiß, wie belastend der Job werden kann. „Manchmal ist es hier echt haarsträubend“, betont der 55-Jährige.
Für solche Tage gibt es in der Leitstelle Ruheräume, in die sich Mitarbeiter zurückziehen können.
Darüber hinaus gibt es noch einen Sonderlagenraum – hier kommen die Mitarbeiter zum Beispiel bei Unwetter zusammen, um zu beraten. Auch die Warnung der Bevölkerung über das Programm Katwarn übernehmen die Mitarbeiter der Leitstelle. Zum Beispiel, als es Anfang Januar zu Störungen der Telefonnetze kam, wurde eine Meldung verschickt.
Und wenn der Tag – oder die Nacht – sich dem Ende neigt, geht für einige Kollegen die Arbeit weiter. Denn: Einige von ihnen sind noch immer Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr. So auch Siemen Rass aus Norden. „Erst nehmen wir den Anruf hier an, und später sind wir dann selber am Einsatzort. Wir leben einfach dafür, anderen Leuten zu helfen“, betont Rass.