Im Nordwesten - Das Christophorus-Haus in Brake, der Wittmunder Wohnpark, das Seniorenzentrum Haarentor in Oldenburg und das Seniorenzentrum in Blexen (Wesermarsch): Immer wieder melden Altenpflegeheime in der Region Insolvenz an. Spricht man mit Fachleuten aus der Branche, gleicht das Betreiben eines Altenpflegeheims der Quadratur des Kreises. Die Heime hätten nicht nur mit hohen Kosten für Personal und Pflegeleistungen zu kämpfen, sondern auch mit Gesetzesvorgaben wie der Belegungsquote, die im Alltag kaum erfüllbar sei. Die Betreiber müssten im Vorfeld Ausgaben errechnen, die sie kaum absehen können. Dazu komme der Fachkräftemangel. Welche Probleme Heime in die Insolvenz treiben und was sich ändern müsste.
„Die Bundesregierung nimmt die finanziellen Schwierigkeiten der Pflegeeinrichtungen sehr ernst“, heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium. Eine Schließungswelle im Pflegebereich könne nicht bestätigt werden. Zwar gebe es (Stand November 2023) eine signifikante Anzahl an laufenden Insolvenzverfahren im Land Niedersachsen, zugleich komme es in der „überwiegenden Zahl der gemeldeten Überschuldungen nicht zu Schließungen (...) und einem (...) Wegfall von Pflegeplätzen“. Einrichtungen würden von anderen Betreibergesellschaften übernommen und weitergeführt, so das Ministerium. Das belegen die vom Ministerium vorgelegten Zahlen: Zum Stichtag 1. Juli 2022 bestanden laut Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen etwa ebenso viele Versorgungsverträge für teil- und vollstationäre Einrichtungen wie zum 1. September 2023 – rund 19.000.
Was sind die Probleme ?
1. Die Belegungsquote: Die Vorgabe seitens der Pflegekassen lautete über lange Zeit, dass die Einrichtungen eine 96- bis 98-prozentige Auslastung haben müssen. Zwar gebe es einzelne Vereinbarungen, die eine Quote von 92 Prozent vorsehen, so die Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP), Isabell Halletz. Die tatsächliche Quote liegt laut Halletz im Schnitt jedoch bei 84 Prozent. „Dadurch ergibt sich eine Finanzierungsdifferenz. Die Betreiber müssen es aus ihren liquiden Mitteln holen“, sagt Halletz. Um eine solche Differenz über Monate ausgleichen zu können, fehlten die Rücklagen, so Halletz.
Von der Landesvertretung Niedersachsen des Verbands der Ersatzkasten (VDEK) heißt es zu der Belegungsquote, dass es gelte, die Balance zwischen angemessener Finanzierung der Heime und Belastung der Bewohnerinnen und Bewohner zu halten.
2. Die Refinanzierung: Die Vorsitzende des Landesverbandes Niedersachsen privater Anbieter sozialer Dienste Ricarda Hasch beschreibt das Problem wie folgt: „Wir müssen eineinhalb Jahre im Vorfeld unsere Pflegesätze kalkulieren und diese Kalkulation mit den Kostenträgern, also den Pflegekassen und den Sozialhilfeträgern, verhandeln. Wir müssen in eine Glaskugel gucken und prognostizieren, wie hoch die Kosten in zwölf Monaten sind.“ Auf aktuelle Entwicklungen kann keine Rücksicht genommen werden. Hinzu kommt die Inflation: „Es gab Kostensteigerungen im sechsstelligen Bereich“, sagt Isabell Halletz. Diese würden von den Kassen nicht umgehend aufgefangen. Oder die gestiegenen Lohnkosten: „Der Schwenk wurde nicht gemacht, dass man die gestiegenen Lohnkosten erst nach erfolgter Refinanzierung zahlt.“ Die Folge: Die Unternehmen müssen in Vorleistung gehen.
Hierzu verweist der VDEK auf die „gesetzlich und durch Rechtsprechung“ festgelegten Regelungen, durch die die Verhandlungen auf die Zukunft ausgerichtet seien. „Sollte es innerhalb eines Jahres unvorhersehbare wesentliche Entwicklungen geben, haben stationäre Einrichtungen das Recht auf Neuverhandlungen.“
Doch selbst wenn eine Refinanzierung erfolgt, ist nicht immer klar wann. So habe es nach Angaben von Carsten Adenäuer, Leiter der Landesgeschäftsstelle Niedersachsen der privaten Anbieter sozialer Dienste, im vergangenen Jahr in mehreren Bundesländern Fälle gegeben, bei denen die Sozialhilfeträger ausstehende Zahlungen in Millionenhöhe aufgrund von Personalmangel nicht getätigt hätten.
Laut VDEK kommt es „zu keiner größeren Zeitverzögerung bei der Finanzierung“.

Isabell Halletz, Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege.
DPA/von Jutrczenka
Ricarda Hasch, Vorsitzende des Landesverbandes Niedersachsen privater Anbieter sozialer Dienste.
BPA
Melanie Philip, Vizepräsidentin der Oldenburgischen Industrie- und Handelskammer für die Gesundheitswirtschaft.
privat3. Die Verhandlungen: Die Vizepräsidentin der Oldenburgischen Industrie- und Handelskammer für die Gesundheitswirtschaft Melanie Philip, die ein Beratungsunternehmen für ambulante Pflegedienste, stationäre Einrichtungen und Kommunen betreibt, beschreibt die Beziehung zwischen Kasse und Pflegeeinrichtung so: „Man geht in eine Pseudo-Verhandlung, da man bereits vorher weiß, dass man entweder vor das Schiedsgericht muss, oder sich mit einem schlechteren Ergebnis zufriedengeben muss.“ Forderungen der Dienstleister würden mitunter mit dem Verweis abgelehnt: „Andere können das billiger.“ Wer diese anderen seien, bliebe unklar. „Das ganze System ist völlig intransparent“, sagt Philip. Auch Ricarda Hasch sieht die Verhandlungen kritisch: „Die Kostenträger verhandeln uns immer runter.“
4. Fehlendes Personal: Stationen mussten aufgrund fehlenden Personals schließen. Die Belegungsquote konnte so nicht erfüllt werden. Ricarda Hasch kritisiert zudem, dass durch anfallende administrative Aufgaben zu viel Personal gebunden werde. Auch der deutsche evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) klagt über Personalmangel. Demnach müssten vier von fünf Trägern der Langzeitpflege ihr Angebot einschränken. 44 Prozent der Träger hätten freie Betten in den vergangenen sechs Monaten nicht belegen können, heißt es.
5. Kostensteigerung für Heimplätze: Laut Isabell Halletz ist ein Platz im Pflegeheim für viele nicht dauerhaft finanzierbar: „Die Durchschnittsrente beträgt etwa 1200 Euro. Ein stationärer Platz kostet 2800 bis 3000 Euro im Monat.“ Dementsprechend würde die Zahl der Bewohner in den Heimen steigen, die Sozialhilfe empfangen. Wer Sozialhilfe beantragt, müsse jedoch mit einer Bearbeitungszeit von bis zu acht Monaten rechnen. „So lange sieht das Unternehmen kein Geld.“
Hat eine Insolvenz Vorteile ?
Melanie Philip berichtet von vielen Insolvenzen im stationären Bereich, die mitunter in einem Insolvenzverfahren in Selbstverwaltung eine Möglichkeit sehen, weitergeführt zu werden. „Man nutzt dann die Chance, um zum Beispiel Altverträge mit Kunden oder Lieferanten abzustoßen.“ Außerdem bestehe kaum Möglichkeiten, eine Einrichtung zu verkaufen, die schlecht laufe. Nach einem erfolgreichen Insolvenzverfahren stehen die Optionen besser.
Was muss sich ändern ?
Ricarda Hasch fordert von der Politik, den Weg für Fachkräfte aus dem Ausland freizumachen. Der bürokratische Aufwand sei „wahnsinnig“, die Hürden müssten runtergesetzt werden. In Sachen Verhandlungen fordert sie, den Anbietern von Pflege mehr Vertrauen entgegenzubringen und begründete Forderungen nicht mit dem Verweis auf den billigeren Konkurrenten abzulehnen.
Isabell Halletz fordert, die Belegungsquote realistisch festzulegen. „Man könnte die Durchschnittsquote der letzten zwei Jahre heranziehen“, um so auf reale Zahlen zurückzugreifen. „Die Unternehmen brauchen bei der Refinanzierung Luft zum Atmen.“